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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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pgo_III.001
Vorwort.



pgo_III.002
Wollte man vielseitigen Versicherungen glauben, so wäre eine Aera pgo_III.003
des Materialismus hereingebrochen, in welcher die Poesie sich mit einer pgo_III.004
vollkommen untergeordneten Rolle begnügen müßte. Nichts würde in pgo_III.005
diesem Falle überflüssiger sein, als eine Poetik zu schreiben, da selbst diejenigen, pgo_III.006
denen die dichterische Muse noch einige Theilnahme abzuschmeicheln pgo_III.007
vermöchte, ihr Jnteresse nicht auf die Kenntniß jener Gesetze ausdehnen pgo_III.008
würden, welche das dichterische Schaffen regeln. Doch nach pgo_III.009
unserer Ueberzeugung ist die Lebenskraft der Poesie zu groß, als daß die pgo_III.010
vorübergehende Ungunst der Zeit sie ersticken könnte. Jm Gegentheil, pgo_III.011
hat eine neue Kulturepoche begonnen, so beginnt sie auch für die Poesie, pgo_III.012
und es ist nöthiger als je, auch auf ästhetischem Gebiete das Bleibende pgo_III.013
vom Vergänglichen zu sondern, damit die Dichtkunst nicht im Joche veralteter pgo_III.014
Regeln seufze, sondern neue Bahnen einschlage, auf denen sie die pgo_III.015
Lorbern der Zukunft erreichen kann. Sie hat dies zum Theil gethan, pgo_III.016
aber ohne von einer wissenschaftlichen Aesthetik gewürdigt zu werden, pgo_III.017
welche diesen neuen Aufschwung nur mit verdrossener Miene betrachtete. pgo_III.018
Wenn überhaupt in Deutschland seit langer Zeit keine specielle technische pgo_III.019
"Poetik" erschienen ist, so fehlt es noch mehr an einem wissenschaftlichen pgo_III.020
Werke, welches den neuen dichterischen Bestrebungen als Fahne dienen, pgo_III.021
die Gleichstrebenden um sich versammeln könnte und, nach den ewigen pgo_III.022
Regeln des Schönen, die Berechtigung derjenigen neuern Erscheinungen pgo_III.023
nachzuweisen versuchte, die von einer vorurtheilsfreien Aesthetik verdammt pgo_III.024
werden, weil sie den gewohnten Kreis der Dichtung mit freieren Bahnen pgo_III.025
vertauschten.

pgo_III.026
Zu einem solchen Unternehmen dürften meine schwachen Kräfte gewiß

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Vorwort.



pgo_III.002
Wollte man vielseitigen Versicherungen glauben, so wäre eine Aera pgo_III.003
des Materialismus hereingebrochen, in welcher die Poesie sich mit einer pgo_III.004
vollkommen untergeordneten Rolle begnügen müßte. Nichts würde in pgo_III.005
diesem Falle überflüssiger sein, als eine Poetik zu schreiben, da selbst diejenigen, pgo_III.006
denen die dichterische Muse noch einige Theilnahme abzuschmeicheln pgo_III.007
vermöchte, ihr Jnteresse nicht auf die Kenntniß jener Gesetze ausdehnen pgo_III.008
würden, welche das dichterische Schaffen regeln. Doch nach pgo_III.009
unserer Ueberzeugung ist die Lebenskraft der Poesie zu groß, als daß die pgo_III.010
vorübergehende Ungunst der Zeit sie ersticken könnte. Jm Gegentheil, pgo_III.011
hat eine neue Kulturepoche begonnen, so beginnt sie auch für die Poesie, pgo_III.012
und es ist nöthiger als je, auch auf ästhetischem Gebiete das Bleibende pgo_III.013
vom Vergänglichen zu sondern, damit die Dichtkunst nicht im Joche veralteter pgo_III.014
Regeln seufze, sondern neue Bahnen einschlage, auf denen sie die pgo_III.015
Lorbern der Zukunft erreichen kann. Sie hat dies zum Theil gethan, pgo_III.016
aber ohne von einer wissenschaftlichen Aesthetik gewürdigt zu werden, pgo_III.017
welche diesen neuen Aufschwung nur mit verdrossener Miene betrachtete. pgo_III.018
Wenn überhaupt in Deutschland seit langer Zeit keine specielle technische pgo_III.019
„Poetik“ erschienen ist, so fehlt es noch mehr an einem wissenschaftlichen pgo_III.020
Werke, welches den neuen dichterischen Bestrebungen als Fahne dienen, pgo_III.021
die Gleichstrebenden um sich versammeln könnte und, nach den ewigen pgo_III.022
Regeln des Schönen, die Berechtigung derjenigen neuern Erscheinungen pgo_III.023
nachzuweisen versuchte, die von einer vorurtheilsfreien Aesthetik verdammt pgo_III.024
werden, weil sie den gewohnten Kreis der Dichtung mit freieren Bahnen pgo_III.025
vertauschten.

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Zu einem solchen Unternehmen dürften meine schwachen Kräfte gewiß

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[RIII/0009] pgo_III.001 Vorwort. pgo_III.002 Wollte man vielseitigen Versicherungen glauben, so wäre eine Aera pgo_III.003 des Materialismus hereingebrochen, in welcher die Poesie sich mit einer pgo_III.004 vollkommen untergeordneten Rolle begnügen müßte. Nichts würde in pgo_III.005 diesem Falle überflüssiger sein, als eine Poetik zu schreiben, da selbst diejenigen, pgo_III.006 denen die dichterische Muse noch einige Theilnahme abzuschmeicheln pgo_III.007 vermöchte, ihr Jnteresse nicht auf die Kenntniß jener Gesetze ausdehnen pgo_III.008 würden, welche das dichterische Schaffen regeln. Doch nach pgo_III.009 unserer Ueberzeugung ist die Lebenskraft der Poesie zu groß, als daß die pgo_III.010 vorübergehende Ungunst der Zeit sie ersticken könnte. Jm Gegentheil, pgo_III.011 hat eine neue Kulturepoche begonnen, so beginnt sie auch für die Poesie, pgo_III.012 und es ist nöthiger als je, auch auf ästhetischem Gebiete das Bleibende pgo_III.013 vom Vergänglichen zu sondern, damit die Dichtkunst nicht im Joche veralteter pgo_III.014 Regeln seufze, sondern neue Bahnen einschlage, auf denen sie die pgo_III.015 Lorbern der Zukunft erreichen kann. Sie hat dies zum Theil gethan, pgo_III.016 aber ohne von einer wissenschaftlichen Aesthetik gewürdigt zu werden, pgo_III.017 welche diesen neuen Aufschwung nur mit verdrossener Miene betrachtete. pgo_III.018 Wenn überhaupt in Deutschland seit langer Zeit keine specielle technische pgo_III.019 „Poetik“ erschienen ist, so fehlt es noch mehr an einem wissenschaftlichen pgo_III.020 Werke, welches den neuen dichterischen Bestrebungen als Fahne dienen, pgo_III.021 die Gleichstrebenden um sich versammeln könnte und, nach den ewigen pgo_III.022 Regeln des Schönen, die Berechtigung derjenigen neuern Erscheinungen pgo_III.023 nachzuweisen versuchte, die von einer vorurtheilsfreien Aesthetik verdammt pgo_III.024 werden, weil sie den gewohnten Kreis der Dichtung mit freieren Bahnen pgo_III.025 vertauschten. pgo_III.026 Zu einem solchen Unternehmen dürften meine schwachen Kräfte gewiß

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. RIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/9>, abgerufen am 21.11.2024.