pgo_IV.001 nicht ausreichen, würden sie nicht dadurch verstärkt, daß ich aus der Mitte pgo_IV.002 der neueren Bestrebungen heraus, mit der gesammelten Kraft der Zeitgenossen, pgo_IV.003 mein Werk zu vollenden trachte, daß ich gleichsam die latente pgo_IV.004 Poetik, welche in den Dichtungen der neuern Poeten schlummert, entbinde pgo_IV.005 und ihr einen wissenschaftlichen Ausdruck zu geben suche. Poesie pgo_IV.006 und Poetik hängen auf's Jnnigste zusammen. Der Philosoph mag die pgo_IV.007 Jdee des Schönen bestimmen; aber selbst ein Aristoteles hätte seinem pgo_IV.008 Werke kein konkretes Leben verleihen können, wenn nicht die erhabenen pgo_IV.009 Schöpfungen eines Homer und Sophokles seinem poetischen Kanon pgo_IV.010 vorausgegangen wären. Der größte Gesetzgeber auf dem Gebiete der pgo_IV.011 Dichtkunst bleibt ewig der dichterische Genius. Weil aber die Jdee des pgo_IV.012 Schönen, sobald sie in die Erscheinung untertaucht, mit jedem Jahrhundert pgo_IV.013 ihre Hülle wechselt: so ist Nichts gefährlicher, als der Götzendienst, pgo_IV.014 der mit diesen abgelegten Schlangenhäuten der Geschichte getrieben wird, pgo_IV.015 als diese Verwechslung des Ewigen und Vergänglichen, welche in der pgo_IV.016 That das zerbrechliche Fundament einer die neuern Erscheinungen verurtheilenden pgo_IV.017 Rhadamanthenweisheit bildet. Auch unser Jahrhundert pgo_IV.018 giebt der ewigen Schönheit eine neue Hülle; unsere Dichter haben die pgo_IV.019 großartigsten Jmpulse zur Fortentwicklung der Poesie im Geiste der Zeit pgo_IV.020 gegeben; aber die Mehrzahl unserer Aesthetiker hat diese Fortschritte nur pgo_IV.021 mit Achselzucken begrüßt, weil sie das ursprüngliche Wesen des Schönen pgo_IV.022 in dieser neuen Erscheinungsform nicht zu erkennen vermochten.
pgo_IV.023 Von diesem Standpunkte aus angesehn, kann es mir unmöglich zum pgo_IV.024 Nachtheile gereichen, daß ich mich selbst produktiv auf den verschiedensten pgo_IV.025 Gebieten, in der Lyrik, Dramatik und Epik, versucht habe. Nur in der pgo_IV.026 Werkstatt des dichterischen Schaffens selbst belauscht man seine Geheimnisse, pgo_IV.027 und wie schon eine vollkommen unproduktive Kritik etwas Eunuchenhaftes pgo_IV.028 hat und ihre Lehren mit einer Fistelstimme vorträgt, der die vollen pgo_IV.029 Brusttöne fehlen, so ist dies in viel höherem Grade bei einer Poetik der pgo_IV.030 Fall, in welcher alle Feinheiten der dichterischen Technik zur Sprache
pgo_IV.001 nicht ausreichen, würden sie nicht dadurch verstärkt, daß ich aus der Mitte pgo_IV.002 der neueren Bestrebungen heraus, mit der gesammelten Kraft der Zeitgenossen, pgo_IV.003 mein Werk zu vollenden trachte, daß ich gleichsam die latente pgo_IV.004 Poetik, welche in den Dichtungen der neuern Poeten schlummert, entbinde pgo_IV.005 und ihr einen wissenschaftlichen Ausdruck zu geben suche. Poesie pgo_IV.006 und Poetik hängen auf's Jnnigste zusammen. Der Philosoph mag die pgo_IV.007 Jdee des Schönen bestimmen; aber selbst ein Aristoteles hätte seinem pgo_IV.008 Werke kein konkretes Leben verleihen können, wenn nicht die erhabenen pgo_IV.009 Schöpfungen eines Homer und Sophokles seinem poetischen Kanon pgo_IV.010 vorausgegangen wären. Der größte Gesetzgeber auf dem Gebiete der pgo_IV.011 Dichtkunst bleibt ewig der dichterische Genius. Weil aber die Jdee des pgo_IV.012 Schönen, sobald sie in die Erscheinung untertaucht, mit jedem Jahrhundert pgo_IV.013 ihre Hülle wechselt: so ist Nichts gefährlicher, als der Götzendienst, pgo_IV.014 der mit diesen abgelegten Schlangenhäuten der Geschichte getrieben wird, pgo_IV.015 als diese Verwechslung des Ewigen und Vergänglichen, welche in der pgo_IV.016 That das zerbrechliche Fundament einer die neuern Erscheinungen verurtheilenden pgo_IV.017 Rhadamanthenweisheit bildet. Auch unser Jahrhundert pgo_IV.018 giebt der ewigen Schönheit eine neue Hülle; unsere Dichter haben die pgo_IV.019 großartigsten Jmpulse zur Fortentwicklung der Poesie im Geiste der Zeit pgo_IV.020 gegeben; aber die Mehrzahl unserer Aesthetiker hat diese Fortschritte nur pgo_IV.021 mit Achselzucken begrüßt, weil sie das ursprüngliche Wesen des Schönen pgo_IV.022 in dieser neuen Erscheinungsform nicht zu erkennen vermochten.
pgo_IV.023 Von diesem Standpunkte aus angesehn, kann es mir unmöglich zum pgo_IV.024 Nachtheile gereichen, daß ich mich selbst produktiv auf den verschiedensten pgo_IV.025 Gebieten, in der Lyrik, Dramatik und Epik, versucht habe. Nur in der pgo_IV.026 Werkstatt des dichterischen Schaffens selbst belauscht man seine Geheimnisse, pgo_IV.027 und wie schon eine vollkommen unproduktive Kritik etwas Eunuchenhaftes pgo_IV.028 hat und ihre Lehren mit einer Fistelstimme vorträgt, der die vollen pgo_IV.029 Brusttöne fehlen, so ist dies in viel höherem Grade bei einer Poetik der pgo_IV.030 Fall, in welcher alle Feinheiten der dichterischen Technik zur Sprache
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mein Werk zu vollenden trachte, daß ich gleichsam die latente pgo_IV.004
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Schöpfungen eines Homer und Sophokles seinem poetischen Kanon pgo_IV.010
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Dichtkunst bleibt ewig der dichterische Genius. Weil aber die Jdee des pgo_IV.012
Schönen, sobald sie in die Erscheinung untertaucht, mit jedem Jahrhundert pgo_IV.013
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der mit diesen abgelegten Schlangenhäuten der Geschichte getrieben wird, pgo_IV.015
als diese Verwechslung des Ewigen und Vergänglichen, welche in der pgo_IV.016
That das zerbrechliche Fundament einer die neuern Erscheinungen verurtheilenden pgo_IV.017
Rhadamanthenweisheit bildet. Auch unser Jahrhundert pgo_IV.018
giebt der ewigen Schönheit eine neue Hülle; unsere Dichter haben die pgo_IV.019
großartigsten Jmpulse zur Fortentwicklung der Poesie im Geiste der Zeit pgo_IV.020
gegeben; aber die Mehrzahl unserer Aesthetiker hat diese Fortschritte nur pgo_IV.021
mit Achselzucken begrüßt, weil sie das ursprüngliche Wesen des Schönen pgo_IV.022
in dieser neuen Erscheinungsform nicht zu erkennen vermochten.
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Von diesem Standpunkte aus angesehn, kann es mir unmöglich zum pgo_IV.024
Nachtheile gereichen, daß ich mich selbst produktiv auf den verschiedensten pgo_IV.025
Gebieten, in der Lyrik, Dramatik und Epik, versucht habe. Nur in der pgo_IV.026
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. RIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/10>, abgerufen am 21.11.2024.
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