pgo_V.001 kommen müssen. Ganz abgesehn von Horaz, Vida und Pope -- hat pgo_V.002 unsere Aesthetik nicht durch unsere klassischen Dichter, durch Lessing, pgo_V.003 Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, die wesentlichste Fortbildung pgo_V.004 erhalten? War es nicht der innige Zusammenhang mit der Produktion, pgo_V.005 der sie selbst erst in neue Bahnen führte? Und haben unsere pgo_V.006 neuen ästhetischen Systematiker viel mehr gethan, als jene genialen pgo_V.007 Apercus der Dichter in eine wissenschaftliche Form zu bringen und durch pgo_V.008 logischen und metaphysischen Kitt niet- und nagelfest zu machen? Niemand pgo_V.009 wird leugnen wollen, daß die Kritik ein wesentliches Moment des pgo_V.010 dichterischen Schaffens ist! Welche Kritik muß der Dichter schon bei Erfindung pgo_V.011 eines Plans ausüben, wieviel verwerfen, sichten, neuschaffen, welchen pgo_V.012 Scharfsinn erfordert die konsequente Durchführung der Charaktere, die pgo_V.013 logische Entwickelung der Handlung! Jedes fertige Werk steht gleichsam pgo_V.014 auf einem Schutt von Planen, Motiven, Fragmenten, der in der Werkstatt pgo_V.015 des Dichters zurückgeblieben. Der Dichter hat sich selbst hundertmal pgo_V.016 kritisirt, ehe ihn sein Kunstrichter einmal beurtheilt. Und sollte, pgo_V.017 bei aller Begeisterung, die ihn treibt, dem Poeten bei dem Einschlagen pgo_V.018 neuer Richtungen, dem Schaffen neuer Formen das volle Bewußtsein pgo_V.019 über seinen Weg und sein Ziel fehlen? Ein Dichter ist daher gewiß mehr pgo_V.020 als der bloße Theoretiker befähigt, einen lebensvollen und nutzenbringenden pgo_V.021 Kanon der Dichtkunst zu entwerfen.
pgo_V.022 Obgleich ich mich schon lange mit diesem Plan trug und auch den pgo_V.023 Entwurf des Werkes schon ausgearbeitet hatte, so wartete ich doch das pgo_V.024 Erscheinen des letzten Heftes der umfangreichen Vischer'schen "Aesthetik" pgo_V.025 ab, welches die Dichkunst behandelt, um mich zu überzeugen, ob diese pgo_V.026 Arbeit nicht die meinige überflüssig mache. Doch der Aesthetiker, der die pgo_V.027 einzelnen Künste nur in den Bau seines ganzen Systems hineinarbeitet, pgo_V.028 hat immer mehr ihre allgemeine Seite im Auge und kann sich nicht mit pgo_V.029 dem erforderlichen Behagen in die Einzelnheiten der Technik versenken, pgo_V.030 nicht die Physiognomie einzelner Werke und Dichter mit jener Lebendigkeit
pgo_V.001 kommen müssen. Ganz abgesehn von Horaz, Vida und Pope — hat pgo_V.002 unsere Aesthetik nicht durch unsere klassischen Dichter, durch Lessing, pgo_V.003 Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, die wesentlichste Fortbildung pgo_V.004 erhalten? War es nicht der innige Zusammenhang mit der Produktion, pgo_V.005 der sie selbst erst in neue Bahnen führte? Und haben unsere pgo_V.006 neuen ästhetischen Systematiker viel mehr gethan, als jene genialen pgo_V.007 Aperçus der Dichter in eine wissenschaftliche Form zu bringen und durch pgo_V.008 logischen und metaphysischen Kitt niet- und nagelfest zu machen? Niemand pgo_V.009 wird leugnen wollen, daß die Kritik ein wesentliches Moment des pgo_V.010 dichterischen Schaffens ist! Welche Kritik muß der Dichter schon bei Erfindung pgo_V.011 eines Plans ausüben, wieviel verwerfen, sichten, neuschaffen, welchen pgo_V.012 Scharfsinn erfordert die konsequente Durchführung der Charaktere, die pgo_V.013 logische Entwickelung der Handlung! Jedes fertige Werk steht gleichsam pgo_V.014 auf einem Schutt von Planen, Motiven, Fragmenten, der in der Werkstatt pgo_V.015 des Dichters zurückgeblieben. Der Dichter hat sich selbst hundertmal pgo_V.016 kritisirt, ehe ihn sein Kunstrichter einmal beurtheilt. Und sollte, pgo_V.017 bei aller Begeisterung, die ihn treibt, dem Poeten bei dem Einschlagen pgo_V.018 neuer Richtungen, dem Schaffen neuer Formen das volle Bewußtsein pgo_V.019 über seinen Weg und sein Ziel fehlen? Ein Dichter ist daher gewiß mehr pgo_V.020 als der bloße Theoretiker befähigt, einen lebensvollen und nutzenbringenden pgo_V.021 Kanon der Dichtkunst zu entwerfen.
pgo_V.022 Obgleich ich mich schon lange mit diesem Plan trug und auch den pgo_V.023 Entwurf des Werkes schon ausgearbeitet hatte, so wartete ich doch das pgo_V.024 Erscheinen des letzten Heftes der umfangreichen Vischer'schen „Aesthetik“ pgo_V.025 ab, welches die Dichkunst behandelt, um mich zu überzeugen, ob diese pgo_V.026 Arbeit nicht die meinige überflüssig mache. Doch der Aesthetiker, der die pgo_V.027 einzelnen Künste nur in den Bau seines ganzen Systems hineinarbeitet, pgo_V.028 hat immer mehr ihre allgemeine Seite im Auge und kann sich nicht mit pgo_V.029 dem erforderlichen Behagen in die Einzelnheiten der Technik versenken, pgo_V.030 nicht die Physiognomie einzelner Werke und Dichter mit jener Lebendigkeit
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unsere Aesthetik nicht durch unsere klassischen Dichter, durch Lessing, pgo_V.003
Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, die wesentlichste Fortbildung pgo_V.004
erhalten? War es nicht der innige Zusammenhang mit der Produktion, pgo_V.005
der sie selbst erst in neue Bahnen führte? Und haben unsere pgo_V.006
neuen ästhetischen Systematiker viel mehr gethan, als jene genialen pgo_V.007
Aperçus der Dichter in eine wissenschaftliche Form zu bringen und durch pgo_V.008
logischen und metaphysischen Kitt niet- und nagelfest zu machen? Niemand pgo_V.009
wird leugnen wollen, daß die Kritik ein wesentliches Moment des pgo_V.010
dichterischen Schaffens ist! Welche Kritik muß der Dichter schon bei Erfindung pgo_V.011
eines Plans ausüben, wieviel verwerfen, sichten, neuschaffen, welchen pgo_V.012
Scharfsinn erfordert die konsequente Durchführung der Charaktere, die pgo_V.013
logische Entwickelung der Handlung! Jedes fertige Werk steht gleichsam pgo_V.014
auf einem Schutt von Planen, Motiven, Fragmenten, der in der Werkstatt pgo_V.015
des Dichters zurückgeblieben. Der Dichter hat sich selbst hundertmal pgo_V.016
kritisirt, ehe ihn sein Kunstrichter einmal beurtheilt. Und sollte, pgo_V.017
bei aller Begeisterung, die ihn treibt, dem Poeten bei dem Einschlagen pgo_V.018
neuer Richtungen, dem Schaffen neuer Formen das volle Bewußtsein pgo_V.019
über seinen Weg und sein Ziel fehlen? Ein Dichter ist daher gewiß mehr pgo_V.020
als der bloße Theoretiker befähigt, einen lebensvollen und nutzenbringenden pgo_V.021
Kanon der Dichtkunst zu entwerfen.
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Obgleich ich mich schon lange mit diesem Plan trug und auch den pgo_V.023
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einzelnen Künste nur in den Bau seines ganzen Systems hineinarbeitet, pgo_V.028
hat immer mehr ihre allgemeine Seite im Auge und kann sich nicht mit pgo_V.029
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. RV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/11>, abgerufen am 21.11.2024.
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