Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_VI.001
ausmalen, welche der abstrakten Regel erst Wärme und Frische giebt! pgo_VI.002
Je größer überhaupt die architektonische Kunst des Aesthetikers ist, je pgo_VI.003
mehr er sein Paragraphennetz wie eine logische Kette ineinanderschlingt pgo_VI.004
und jeden neuen Satz nur als Resultat der vorausgehenden Entwickelung pgo_VI.005
giebt: um so weniger wird sich der einzelne Theil selbstständig von pgo_VI.006
dem ganzen Organismus lostrennen lassen, um so weniger wird er pgo_VI.007
ohne Rückblicke, Hinweise auf Früheres, ja ohne vollständige Kenntniß pgo_VI.008
der im allgemeinen Theil enthaltenen Entwickelungen verständlich pgo_VI.009
sein. Dies ist in der That bei der Vischer'schen Aesthetik der Fall -- pgo_VI.010
die Lehre von "der Dichtkunst" ist reich an jenen philosophischen pgo_VI.011
Abbreviaturen, deren Schlüssel nur das ganze Werk giebt. Hierzu pgo_VI.012
kommt, daß die Rücksichtnahme auf die neueste Literatur eine außerordentlich pgo_VI.013
geringe ist, und somit die Hauptzwecke meiner Poetik dort pgo_VI.014
keine Erledigung gefunden haben. Wie ich indeß der Aesthetik pgo_VI.015
Vischer's allgemeine Grundbestimmungen des Schönen und der Kunst pgo_VI.016
verdanke, welche ich zu adoptiren um so weniger Bedenken trug, als auch pgo_VI.017
die Wissenschaft des Geistes, wie die der Natur, positive Resultate aufweist, pgo_VI.018
auf denen sich weiter bauen läßt, wenn überhaupt von einer gemeinsamen pgo_VI.019
Arbeit der Geister die Rede sein soll: so verdanke ich noch zwei pgo_VI.020
neuern Werken eine Fülle von Anregungen, dem Werke des tief und feingebildeten pgo_VI.021
Rosenkranz: "die Poesie und ihre Geschichte" und dem pgo_VI.022
des geistvollen Carriere: "das Wesen und die Formen der pgo_VI.023
Poesie,
" indem das erstere für die sehr wichtige geschichtliche Auffassung pgo_VI.024
und Behandlung des Stoffes glänzende Gesichtspunkte aufstellt, das pgo_VI.025
zweite mit echt dichterischem Geiste die großen Kunstwerke aller Zeiten pgo_VI.026
interpretirt und vielen Axiomen der Poetik eine neue überzeugende Fassung pgo_VI.027
giebt. Doch auch diese beiden Werke konnten das meinige nicht pgo_VI.028
überflüssig machen, da ich nicht nur in vielen Punkten von ihnen abweiche, pgo_VI.029
sondern auch nur die konsequente Betonung des modernen Princips pgo_VI.030
für unsere Dichtkunst durch die ausführliche Detailbehandlung der Tech-

pgo_VI.001
ausmalen, welche der abstrakten Regel erst Wärme und Frische giebt! pgo_VI.002
Je größer überhaupt die architektonische Kunst des Aesthetikers ist, je pgo_VI.003
mehr er sein Paragraphennetz wie eine logische Kette ineinanderschlingt pgo_VI.004
und jeden neuen Satz nur als Resultat der vorausgehenden Entwickelung pgo_VI.005
giebt: um so weniger wird sich der einzelne Theil selbstständig von pgo_VI.006
dem ganzen Organismus lostrennen lassen, um so weniger wird er pgo_VI.007
ohne Rückblicke, Hinweise auf Früheres, ja ohne vollständige Kenntniß pgo_VI.008
der im allgemeinen Theil enthaltenen Entwickelungen verständlich pgo_VI.009
sein. Dies ist in der That bei der Vischer'schen Aesthetik der Fall — pgo_VI.010
die Lehre von „der Dichtkunst“ ist reich an jenen philosophischen pgo_VI.011
Abbreviaturen, deren Schlüssel nur das ganze Werk giebt. Hierzu pgo_VI.012
kommt, daß die Rücksichtnahme auf die neueste Literatur eine außerordentlich pgo_VI.013
geringe ist, und somit die Hauptzwecke meiner Poetik dort pgo_VI.014
keine Erledigung gefunden haben. Wie ich indeß der Aesthetik pgo_VI.015
Vischer's allgemeine Grundbestimmungen des Schönen und der Kunst pgo_VI.016
verdanke, welche ich zu adoptiren um so weniger Bedenken trug, als auch pgo_VI.017
die Wissenschaft des Geistes, wie die der Natur, positive Resultate aufweist, pgo_VI.018
auf denen sich weiter bauen läßt, wenn überhaupt von einer gemeinsamen pgo_VI.019
Arbeit der Geister die Rede sein soll: so verdanke ich noch zwei pgo_VI.020
neuern Werken eine Fülle von Anregungen, dem Werke des tief und feingebildeten pgo_VI.021
Rosenkranz:die Poesie und ihre Geschichte“ und dem pgo_VI.022
des geistvollen Carrière:das Wesen und die Formen der pgo_VI.023
Poesie,
“ indem das erstere für die sehr wichtige geschichtliche Auffassung pgo_VI.024
und Behandlung des Stoffes glänzende Gesichtspunkte aufstellt, das pgo_VI.025
zweite mit echt dichterischem Geiste die großen Kunstwerke aller Zeiten pgo_VI.026
interpretirt und vielen Axiomen der Poetik eine neue überzeugende Fassung pgo_VI.027
giebt. Doch auch diese beiden Werke konnten das meinige nicht pgo_VI.028
überflüssig machen, da ich nicht nur in vielen Punkten von ihnen abweiche, pgo_VI.029
sondern auch nur die konsequente Betonung des modernen Princips pgo_VI.030
für unsere Dichtkunst durch die ausführliche Detailbehandlung der Tech-

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="preface">
        <p><pb facs="#f0012" n="RVI"/><lb n="pgo_VI.001"/>
ausmalen, welche der abstrakten Regel erst Wärme und Frische giebt! <lb n="pgo_VI.002"/>
Je größer überhaupt die architektonische Kunst des Aesthetikers ist, je <lb n="pgo_VI.003"/>
mehr er sein Paragraphennetz wie eine logische Kette ineinanderschlingt <lb n="pgo_VI.004"/>
und jeden neuen Satz nur als Resultat der vorausgehenden Entwickelung <lb n="pgo_VI.005"/>
giebt: um so weniger wird sich der einzelne Theil selbstständig von <lb n="pgo_VI.006"/>
dem ganzen Organismus lostrennen lassen, um so weniger wird er <lb n="pgo_VI.007"/>
ohne Rückblicke, Hinweise auf Früheres, ja ohne vollständige Kenntniß <lb n="pgo_VI.008"/>
der im allgemeinen Theil enthaltenen Entwickelungen verständlich <lb n="pgo_VI.009"/>
sein. Dies ist in der That bei der Vischer'schen Aesthetik der Fall &#x2014; <lb n="pgo_VI.010"/>
die Lehre von &#x201E;der Dichtkunst&#x201C; ist reich an jenen philosophischen <lb n="pgo_VI.011"/>
Abbreviaturen, deren Schlüssel nur das ganze Werk giebt. Hierzu <lb n="pgo_VI.012"/>
kommt, daß die Rücksichtnahme auf die neueste Literatur eine außerordentlich <lb n="pgo_VI.013"/>
geringe ist, und somit die Hauptzwecke meiner Poetik dort <lb n="pgo_VI.014"/>
keine Erledigung gefunden haben. Wie ich indeß der Aesthetik <lb n="pgo_VI.015"/> <hi rendition="#g">Vischer's</hi> allgemeine Grundbestimmungen des Schönen und der Kunst <lb n="pgo_VI.016"/>
verdanke, welche ich zu adoptiren um so weniger Bedenken trug, als auch <lb n="pgo_VI.017"/>
die Wissenschaft des Geistes, wie die der Natur, positive Resultate aufweist, <lb n="pgo_VI.018"/>
auf denen sich weiter bauen läßt, wenn überhaupt von einer gemeinsamen <lb n="pgo_VI.019"/>
Arbeit der Geister die Rede sein soll: so verdanke ich noch zwei <lb n="pgo_VI.020"/>
neuern Werken eine Fülle von Anregungen, dem Werke des tief und feingebildeten <lb n="pgo_VI.021"/> <hi rendition="#g">Rosenkranz:</hi> &#x201E;<hi rendition="#g">die Poesie und ihre Geschichte</hi>&#x201C; und dem <lb n="pgo_VI.022"/>
des geistvollen <hi rendition="#g">Carri<hi rendition="#aq">è</hi>re:</hi> &#x201E;<hi rendition="#g">das Wesen und die Formen der <lb n="pgo_VI.023"/>
Poesie,</hi>&#x201C; indem das erstere für die sehr wichtige geschichtliche Auffassung <lb n="pgo_VI.024"/>
und Behandlung des Stoffes glänzende Gesichtspunkte aufstellt, das <lb n="pgo_VI.025"/>
zweite mit echt dichterischem Geiste die großen Kunstwerke aller Zeiten <lb n="pgo_VI.026"/>
interpretirt und vielen Axiomen der Poetik eine neue überzeugende Fassung <lb n="pgo_VI.027"/>
giebt. Doch auch diese beiden Werke konnten das meinige nicht <lb n="pgo_VI.028"/>
überflüssig machen, da ich nicht nur in vielen Punkten von ihnen abweiche, <lb n="pgo_VI.029"/>
sondern auch nur die konsequente Betonung des <hi rendition="#g">modernen Princips</hi> <lb n="pgo_VI.030"/>
für unsere Dichtkunst durch die ausführliche Detailbehandlung der <hi rendition="#g">Tech-
</hi></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[RVI/0012] pgo_VI.001 ausmalen, welche der abstrakten Regel erst Wärme und Frische giebt! pgo_VI.002 Je größer überhaupt die architektonische Kunst des Aesthetikers ist, je pgo_VI.003 mehr er sein Paragraphennetz wie eine logische Kette ineinanderschlingt pgo_VI.004 und jeden neuen Satz nur als Resultat der vorausgehenden Entwickelung pgo_VI.005 giebt: um so weniger wird sich der einzelne Theil selbstständig von pgo_VI.006 dem ganzen Organismus lostrennen lassen, um so weniger wird er pgo_VI.007 ohne Rückblicke, Hinweise auf Früheres, ja ohne vollständige Kenntniß pgo_VI.008 der im allgemeinen Theil enthaltenen Entwickelungen verständlich pgo_VI.009 sein. Dies ist in der That bei der Vischer'schen Aesthetik der Fall — pgo_VI.010 die Lehre von „der Dichtkunst“ ist reich an jenen philosophischen pgo_VI.011 Abbreviaturen, deren Schlüssel nur das ganze Werk giebt. Hierzu pgo_VI.012 kommt, daß die Rücksichtnahme auf die neueste Literatur eine außerordentlich pgo_VI.013 geringe ist, und somit die Hauptzwecke meiner Poetik dort pgo_VI.014 keine Erledigung gefunden haben. Wie ich indeß der Aesthetik pgo_VI.015 Vischer's allgemeine Grundbestimmungen des Schönen und der Kunst pgo_VI.016 verdanke, welche ich zu adoptiren um so weniger Bedenken trug, als auch pgo_VI.017 die Wissenschaft des Geistes, wie die der Natur, positive Resultate aufweist, pgo_VI.018 auf denen sich weiter bauen läßt, wenn überhaupt von einer gemeinsamen pgo_VI.019 Arbeit der Geister die Rede sein soll: so verdanke ich noch zwei pgo_VI.020 neuern Werken eine Fülle von Anregungen, dem Werke des tief und feingebildeten pgo_VI.021 Rosenkranz: „die Poesie und ihre Geschichte“ und dem pgo_VI.022 des geistvollen Carrière: „das Wesen und die Formen der pgo_VI.023 Poesie,“ indem das erstere für die sehr wichtige geschichtliche Auffassung pgo_VI.024 und Behandlung des Stoffes glänzende Gesichtspunkte aufstellt, das pgo_VI.025 zweite mit echt dichterischem Geiste die großen Kunstwerke aller Zeiten pgo_VI.026 interpretirt und vielen Axiomen der Poetik eine neue überzeugende Fassung pgo_VI.027 giebt. Doch auch diese beiden Werke konnten das meinige nicht pgo_VI.028 überflüssig machen, da ich nicht nur in vielen Punkten von ihnen abweiche, pgo_VI.029 sondern auch nur die konsequente Betonung des modernen Princips pgo_VI.030 für unsere Dichtkunst durch die ausführliche Detailbehandlung der Tech-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/12
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. RVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/12>, abgerufen am 21.11.2024.