Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Rostock, 1736.Die Pietisterey Jungfer Luischen. Jch erwarte die Gnade. Herr Scheinfromm. Sie müssen den lieben GOtt drum bitten. Jungfer Luischen. Wie kann ich das thun, wenn mich die Gnade nicht zum Gebeht zwinget? Herr Scheinfromm. Wahrhafftig! sie sündigen sehr, daß sie in einer Leidenschafft beharren, welche nicht ein Werck der Göttlichen Barmhertzigkeit ist. Jungfer Luischen. Sagen sie vielmehr, daß ich unglücklich bin. Denn wie kann ich mich versündigen, wenn ich keine Schuld habe? Jch erwarte die Gnade. Herr Scheinfromm. Sie sind ihrer Mama ungehorsam. Jungfer Luischen. Was kann ich davor? So bald ich die Ge- nade haben werde, will ich ihr gehorsam seyn: Doch, weil das ihre Lehre ist, Herr Magister, so bringen sie ihr wohl bey, damit sie mit meinem Ungehorsame ein Mitleiden habe. Herr Scheinfromm. Wie? wollen sie denn etwa, daß die Mama sie mit Gewalt zum Gehorsam bringen soll? Jung-
Die Pietiſterey Jungfer Luischen. Jch erwarte die Gnade. Herr Scheinfromm. Sie muͤſſen den lieben GOtt drum bitten. Jungfer Luischen. Wie kann ich das thun, wenn mich die Gnade nicht zum Gebeht zwinget? Herr Scheinfromm. Wahrhafftig! ſie ſuͤndigen ſehr, daß ſie in einer Leidenſchafft beharren, welche nicht ein Werck der Goͤttlichen Barmhertzigkeit iſt. Jungfer Luischen. Sagen ſie vielmehr, daß ich ungluͤcklich bin. Denn wie kann ich mich verſuͤndigen, wenn ich keine Schuld habe? Jch erwarte die Gnade. Herr Scheinfromm. Sie ſind ihrer Mama ungehorſam. Jungfer Luischen. Was kann ich davor? So bald ich die Ge- nade haben werde, will ich ihr gehorſam ſeyn: Doch, weil das ihre Lehre iſt, Herr Magiſter, ſo bringen ſie ihr wohl bey, damit ſie mit meinem Ungehorſame ein Mitleiden habe. Herr Scheinfromm. Wie? wollen ſie denn etwa, daß die Mama ſie mit Gewalt zum Gehorſam bringen ſoll? Jung-
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Die Pietiſterey
Jungfer Luischen.
Jch erwarte die Gnade.
Herr Scheinfromm.
Sie muͤſſen den lieben GOtt drum bitten.
Jungfer Luischen.
Wie kann ich das thun, wenn mich die Gnade
nicht zum Gebeht zwinget?
Herr Scheinfromm.
Wahrhafftig! ſie ſuͤndigen ſehr, daß ſie in einer
Leidenſchafft beharren, welche nicht ein Werck der
Goͤttlichen Barmhertzigkeit iſt.
Jungfer Luischen.
Sagen ſie vielmehr, daß ich ungluͤcklich bin.
Denn wie kann ich mich verſuͤndigen, wenn ich
keine Schuld habe? Jch erwarte die Gnade.
Herr Scheinfromm.
Sie ſind ihrer Mama ungehorſam.
Jungfer Luischen.
Was kann ich davor? So bald ich die Ge-
nade haben werde, will ich ihr gehorſam ſeyn:
Doch, weil das ihre Lehre iſt, Herr Magiſter,
ſo bringen ſie ihr wohl bey, damit ſie mit meinem
Ungehorſame ein Mitleiden habe.
Herr Scheinfromm.
Wie? wollen ſie denn etwa, daß die Mama
ſie mit Gewalt zum Gehorſam bringen ſoll?
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