Pfeifen gespielt worden: das haben die Gelehrten noch nicht ausgemacht. Die Schäfer-Gedichte Theocriti und Virgilii mögen auch wohl nie alle seyn gesungen worden: denn da ihre Verfasser nicht wahre, sondern nur allegorische Schäfer wa- ren, so scheinen sie nur zum bloßen Lesen gemacht zu seyn. Ja selbst die Oden so Pindarus, Sappho, Anacreon und Horatz in so grosser Menge gemacht, sind nicht alle zum singen ver- fertiget worden. Denn man sehe nur z. E. die leztern an, und bemercke bey was vor verschiedenen Gelegenheiten sie verfer- tiget worden; so wird man selbst gestehen, daß die wenigsten darunter ein einzig mahl mögen in die Music gesetzt worden seyn.
Da nun dergestalt die Poesie sich ohne die Thon- und Singe-Kunst beliebt gemacht hatte, so war es kein Wunder, daß noch immer mehr und mehr unmusicalische Gedichte er- funden wurden. Dahin gehören nun die Satiren Lucilii, Horatii, Juvenalis und Persiii; die Poetischen Briefe des Flaccus und Naso; die Elegien Catulli, Tibulli und Pro- pertii; die Sinngedichte Martialis und andrer Lateiner, der Griechen voritzo nicht zu gedencken, so in allen diesen Stücken den Römern vorgegangen. Alle diese Gattungen konnten nicht mehr Lieder heissen: Poesien aber, Gedichte oder Verße zum wenigsten blieben sie doch; als welchen leztern Nahmen Horatz auch seinen Briefen zugesteht, da er hingegen den ersten nur vor die erhabenen Heldenlieder, Lobgedichte und Tragödien auf behalten wissen will. Noch mehr entfernte sich von der alten Art ein Empedocles, der die gantze Natur- lehre, Aratus, der die Sternkunst, Lucretius, der gleichfalls die Natur-Wissenschafft, und Virgil, der den Feldbau in Alexandrinischen Verßen beschrieb. Allen dergleichen Wer- cken spricht Aristoteles in seiner Dichtkunst den Nahmen der Gedichte ab: weil sie nehmlich keine Nachahmungen oder Fabeln sind; ob sie gleich das äusserliche Ansehen der Poeti- schen Schreibart beybehalten haben. Zu eben dieser Classe könnte man den Silius Jtalicus, Lucanus und Statius rech- nen, deren jener den ganzen Punischen, der andre den Phar- salischen Krieg, und dieser das gantze Leben des Achilles be-
schrie-
Das I. Cap. Vom Urſprunge
Pfeifen geſpielt worden: das haben die Gelehrten noch nicht ausgemacht. Die Schaͤfer-Gedichte Theocriti und Virgilii moͤgen auch wohl nie alle ſeyn geſungen worden: denn da ihre Verfaſſer nicht wahre, ſondern nur allegoriſche Schaͤfer wa- ren, ſo ſcheinen ſie nur zum bloßen Leſen gemacht zu ſeyn. Ja ſelbſt die Oden ſo Pindarus, Sappho, Anacreon und Horatz in ſo groſſer Menge gemacht, ſind nicht alle zum ſingen ver- fertiget worden. Denn man ſehe nur z. E. die leztern an, und bemercke bey was vor verſchiedenen Gelegenheiten ſie verfer- tiget worden; ſo wird man ſelbſt geſtehen, daß die wenigſten darunter ein einzig mahl moͤgen in die Muſic geſetzt worden ſeyn.
Da nun dergeſtalt die Poeſie ſich ohne die Thon- und Singe-Kunſt beliebt gemacht hatte, ſo war es kein Wunder, daß noch immer mehr und mehr unmuſicaliſche Gedichte er- funden wurden. Dahin gehoͤren nun die Satiren Lucilii, Horatii, Juvenalis und Perſiii; die Poetiſchen Briefe des Flaccus und Naſo; die Elegien Catulli, Tibulli und Pro- pertii; die Sinngedichte Martialis und andrer Lateiner, der Griechen voritzo nicht zu gedencken, ſo in allen dieſen Stuͤcken den Roͤmern vorgegangen. Alle dieſe Gattungen konnten nicht mehr Lieder heiſſen: Poeſien aber, Gedichte oder Verße zum wenigſten blieben ſie doch; als welchen leztern Nahmen Horatz auch ſeinen Briefen zugeſteht, da er hingegen den erſten nur vor die erhabenen Heldenlieder, Lobgedichte und Tragoͤdien auf behalten wiſſen will. Noch mehr entfernte ſich von der alten Art ein Empedocles, der die gantze Natur- lehre, Aratus, der die Sternkunſt, Lucretius, der gleichfalls die Natur-Wiſſenſchafft, und Virgil, der den Feldbau in Alexandriniſchen Verßen beſchrieb. Allen dergleichen Wer- cken ſpricht Ariſtoteles in ſeiner Dichtkunſt den Nahmen der Gedichte ab: weil ſie nehmlich keine Nachahmungen oder Fabeln ſind; ob ſie gleich das aͤuſſerliche Anſehen der Poeti- ſchen Schreibart beybehalten haben. Zu eben dieſer Claſſe koͤnnte man den Silius Jtalicus, Lucanus und Statius rech- nen, deren jener den ganzen Puniſchen, der andre den Phar- ſaliſchen Krieg, und dieſer das gantze Leben des Achilles be-
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Das I. Cap. Vom Urſprunge
Pfeifen geſpielt worden: das haben die Gelehrten noch nicht
ausgemacht. Die Schaͤfer-Gedichte Theocriti und Virgilii
moͤgen auch wohl nie alle ſeyn geſungen worden: denn da ihre
Verfaſſer nicht wahre, ſondern nur allegoriſche Schaͤfer wa-
ren, ſo ſcheinen ſie nur zum bloßen Leſen gemacht zu ſeyn. Ja
ſelbſt die Oden ſo Pindarus, Sappho, Anacreon und Horatz
in ſo groſſer Menge gemacht, ſind nicht alle zum ſingen ver-
fertiget worden. Denn man ſehe nur z. E. die leztern an, und
bemercke bey was vor verſchiedenen Gelegenheiten ſie verfer-
tiget worden; ſo wird man ſelbſt geſtehen, daß die wenigſten
darunter ein einzig mahl moͤgen in die Muſic geſetzt worden
ſeyn.
Da nun dergeſtalt die Poeſie ſich ohne die Thon- und
Singe-Kunſt beliebt gemacht hatte, ſo war es kein Wunder,
daß noch immer mehr und mehr unmuſicaliſche Gedichte er-
funden wurden. Dahin gehoͤren nun die Satiren Lucilii,
Horatii, Juvenalis und Perſiii; die Poetiſchen Briefe des
Flaccus und Naſo; die Elegien Catulli, Tibulli und Pro-
pertii; die Sinngedichte Martialis und andrer Lateiner, der
Griechen voritzo nicht zu gedencken, ſo in allen dieſen Stuͤcken
den Roͤmern vorgegangen. Alle dieſe Gattungen konnten
nicht mehr Lieder heiſſen: Poeſien aber, Gedichte oder Verße
zum wenigſten blieben ſie doch; als welchen leztern Nahmen
Horatz auch ſeinen Briefen zugeſteht, da er hingegen den
erſten nur vor die erhabenen Heldenlieder, Lobgedichte und
Tragoͤdien auf behalten wiſſen will. Noch mehr entfernte
ſich von der alten Art ein Empedocles, der die gantze Natur-
lehre, Aratus, der die Sternkunſt, Lucretius, der gleichfalls
die Natur-Wiſſenſchafft, und Virgil, der den Feldbau in
Alexandriniſchen Verßen beſchrieb. Allen dergleichen Wer-
cken ſpricht Ariſtoteles in ſeiner Dichtkunſt den Nahmen der
Gedichte ab: weil ſie nehmlich keine Nachahmungen oder
Fabeln ſind; ob ſie gleich das aͤuſſerliche Anſehen der Poeti-
ſchen Schreibart beybehalten haben. Zu eben dieſer Claſſe
koͤnnte man den Silius Jtalicus, Lucanus und Statius rech-
nen, deren jener den ganzen Puniſchen, der andre den Phar-
ſaliſchen Krieg, und dieſer das gantze Leben des Achilles be-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/100>, abgerufen am 28.11.2024.
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