dergestalt alle zum singen gemacht; und die Music gab ihnen das rechte Leben. So gar als allmählig die Heldengedichte, Tragödien, Comödien und Schäfer-Gedichte auf kamen, war noch der Gesang ein unentbehrliches Stück bey allen.
Das Helden-Gedicht entstund aus den Lobliedern auf Götter oder Helden, indem Homerus seine Jlias, so er dem Achilles zu Ehren gemacht hatte, nach allen Rhapsodien, d. i. Stücken oder Büchern desselben, in Griechenland soll öffent- lich abgesungen haben. Die Tragödien und Comödien ent- stunden aus den satirischen Spottliedern, die auf den Dör- fern, an Fest-Tagen, von lustigen Köpfen, die Bauren zu vergnügen, gesungen wurden: Wie nachmahls aus eigenen Capiteln von diesen beyden Arten ausführlicher erhellen wird. Die Schäfer-Gedichte entstunden aus den verliebten Liedern, welche sonderlich in Arcadien und Sicilien, als ein paar fruchtbaren und geseegneten Landschafften, mögen im Schwange gewesen seyn: weil nehmlich daselbst der Uberfluß an Lebens-Mitteln, die müßigen Schäfer gar leicht zu diesem annehmlichen Affecte reitzen konnte.
Bey allen diesen Gattungen der Poesien nun, verlohr sich allmählich das Singen. Die Helden-Gedichte Homeri sind wohl nach der Zeit, als Pisistratus sie in Ordnung ge- bracht, in Griechenland nicht mehr gesungen, sondern nur gelesen worden: dafern man nicht das Lesen eines harmoni- schen Verßes auch einen Gesang nennen will. Jn der Tra- gödie blieb nur der Chor musicalisch, der auch in der That lauter Oden sang. Alles übrige, was zwischen den Liedern des Chores eingeschaltet wurde, und aus einem blossen Neben- wercke bald das Hauptwerck ward, pflegte nicht gesungen, sondern nur geredet zu werden: weswegen denn auch die jam- bischen Verße dabey gebraucht wurden, als welche mit der ungebundenen Sprache der Griechen sehr überein kamen. Bey der Comödie war es anfänglich eben so, bis endlich der Chor, wegen seiner Schmähsucht, gar von der Obrigkeit verboten ward, und also verstummen muste, wie Horatius sagt. Was es aber bedeute, wenn die Aufschrifften der Terentianischen Comödien sagen, daß dieselben mit dieser oder jener Art von
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und Wachsthume der Poeſie.
dergeſtalt alle zum ſingen gemacht; und die Muſic gab ihnen das rechte Leben. So gar als allmaͤhlig die Heldengedichte, Tragoͤdien, Comoͤdien und Schaͤfer-Gedichte auf kamen, war noch der Geſang ein unentbehrliches Stuͤck bey allen.
Das Helden-Gedicht entſtund aus den Lobliedern auf Goͤtter oder Helden, indem Homerus ſeine Jlias, ſo er dem Achilles zu Ehren gemacht hatte, nach allen Rhapſodien, d. i. Stuͤcken oder Buͤchern deſſelben, in Griechenland ſoll oͤffent- lich abgeſungen haben. Die Tragoͤdien und Comoͤdien ent- ſtunden aus den ſatiriſchen Spottliedern, die auf den Doͤr- fern, an Feſt-Tagen, von luſtigen Koͤpfen, die Bauren zu vergnuͤgen, geſungen wurden: Wie nachmahls aus eigenen Capiteln von dieſen beyden Arten ausfuͤhrlicher erhellen wird. Die Schaͤfer-Gedichte entſtunden aus den verliebten Liedern, welche ſonderlich in Arcadien und Sicilien, als ein paar fruchtbaren und geſeegneten Landſchafften, moͤgen im Schwange geweſen ſeyn: weil nehmlich daſelbſt der Uberfluß an Lebens-Mitteln, die muͤßigen Schaͤfer gar leicht zu dieſem annehmlichen Affecte reitzen konnte.
Bey allen dieſen Gattungen der Poeſien nun, verlohr ſich allmaͤhlich das Singen. Die Helden-Gedichte Homeri ſind wohl nach der Zeit, als Piſiſtratus ſie in Ordnung ge- bracht, in Griechenland nicht mehr geſungen, ſondern nur geleſen worden: dafern man nicht das Leſen eines harmoni- ſchen Verßes auch einen Geſang nennen will. Jn der Tra- goͤdie blieb nur der Chor muſicaliſch, der auch in der That lauter Oden ſang. Alles uͤbrige, was zwiſchen den Liedern des Chores eingeſchaltet wurde, und aus einem bloſſen Neben- wercke bald das Hauptwerck ward, pflegte nicht geſungen, ſondern nur geredet zu werden: weswegen denn auch die jam- biſchen Verße dabey gebraucht wurden, als welche mit der ungebundenen Sprache der Griechen ſehr uͤberein kamen. Bey der Comoͤdie war es anfaͤnglich eben ſo, bis endlich der Chor, wegen ſeiner Schmaͤhſucht, gar von der Obrigkeit verboten ward, und alſo verſtummen muſte, wie Horatius ſagt. Was es aber bedeute, wenn die Aufſchrifften der Terentianiſchen Comoͤdien ſagen, daß dieſelben mit dieſer oder jener Art von
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und Wachsthume der Poeſie.
dergeſtalt alle zum ſingen gemacht; und die Muſic gab ihnen
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Tragoͤdien, Comoͤdien und Schaͤfer-Gedichte auf kamen,
war noch der Geſang ein unentbehrliches Stuͤck bey allen.
Das Helden-Gedicht entſtund aus den Lobliedern auf
Goͤtter oder Helden, indem Homerus ſeine Jlias, ſo er dem
Achilles zu Ehren gemacht hatte, nach allen Rhapſodien, d. i.
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lich abgeſungen haben. Die Tragoͤdien und Comoͤdien ent-
ſtunden aus den ſatiriſchen Spottliedern, die auf den Doͤr-
fern, an Feſt-Tagen, von luſtigen Koͤpfen, die Bauren zu
vergnuͤgen, geſungen wurden: Wie nachmahls aus eigenen
Capiteln von dieſen beyden Arten ausfuͤhrlicher erhellen
wird. Die Schaͤfer-Gedichte entſtunden aus den verliebten
Liedern, welche ſonderlich in Arcadien und Sicilien, als ein
paar fruchtbaren und geſeegneten Landſchafften, moͤgen im
Schwange geweſen ſeyn: weil nehmlich daſelbſt der Uberfluß
an Lebens-Mitteln, die muͤßigen Schaͤfer gar leicht zu dieſem
annehmlichen Affecte reitzen konnte.
Bey allen dieſen Gattungen der Poeſien nun, verlohr
ſich allmaͤhlich das Singen. Die Helden-Gedichte Homeri
ſind wohl nach der Zeit, als Piſiſtratus ſie in Ordnung ge-
bracht, in Griechenland nicht mehr geſungen, ſondern nur
geleſen worden: dafern man nicht das Leſen eines harmoni-
ſchen Verßes auch einen Geſang nennen will. Jn der Tra-
goͤdie blieb nur der Chor muſicaliſch, der auch in der That
lauter Oden ſang. Alles uͤbrige, was zwiſchen den Liedern
des Chores eingeſchaltet wurde, und aus einem bloſſen Neben-
wercke bald das Hauptwerck ward, pflegte nicht geſungen,
ſondern nur geredet zu werden: weswegen denn auch die jam-
biſchen Verße dabey gebraucht wurden, als welche mit der
ungebundenen Sprache der Griechen ſehr uͤberein kamen. Bey
der Comoͤdie war es anfaͤnglich eben ſo, bis endlich der Chor,
wegen ſeiner Schmaͤhſucht, gar von der Obrigkeit verboten
ward, und alſo verſtummen muſte, wie Horatius ſagt. Was
es aber bedeute, wenn die Aufſchrifften der Terentianiſchen
Comoͤdien ſagen, daß dieſelben mit dieſer oder jener Art von
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/99>, abgerufen am 28.11.2024.
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