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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das II. Capitel
ſchlechte Meiſter darinnen werden, die ihren Ruhm in dem
Beyfalle eines eigenſinnigen Volckes ſuchen wollten, welches
ohne Verſtand und ohne Regeln von ihren Sachen urtheilet,
und deſſen Geſchmack die unbeſtaͤndigſte Sache von der
Welt iſt. Es trifft freylich zuweilen zu, daß ein gantzes Land
oder eine groſſe Stadt ſich an lauter regelmaͤßige Sachen
gewehnet, und ſo zu reden eine zeitlang Geſchmack daran fin-
det. Aber dieſer gute Geſchmack kan nicht lange Zeit erhalten
werden; wenn es nicht Kunſtverſtaͤndige darunter giebt, die
dasjenige, was der gemeine Mann nach der ſinnlichen Em-
pfindung beliebet, nach richtigen Grundregeln vor gut und
ſchoͤn erkennen. Ohne ſolche Meiſter geht der gute Geſchmack
bald wieder verlohren. Die Leichtſinnigkeit der menſchlichen
Gemuͤther ſucht allezeit eine Veraͤnderung; und wie leicht
geſchieht es da, daß Leute von keiner Einſicht, an ſtatt der
wahren Schoͤnheiten, die aus wircklichen Vollkommenheiten
entſtehen, auf ſcheinbare verfallen, die offt die bloſſe Sinn-
lichkeit eben ſo ſehr als die erſtern beluſtigen. Alsdann verfaͤllt
alles in Verachtung, was vorhin mit gutem Grunde war hoch-
geſchaͤtzet worden. Der allgemeine Beyfall einer Nation kan
alſo nicht eher von der Geſchicklichkeit eines Meiſters in freyen
Kuͤnſten, ein guͤltiges Urtheil faͤllen, als bis man vorher den
guten Geſchmack derſelben erwieſen. Dieſes aber geſchieht
nicht anders, als wenn man zeiget: daß derſelbe mit den Re-
geln der Kunſt uͤbereinſtimme, ſo aus der Vernunft und Na-
tur hergeleitet worden.

Jch habe hiermit beylaͤufig meinen Begriff von dem gu-
ten Geſchmacke entdecket: einer Sache, davon zu itziger
Zeit uͤberall ſo viel Redens und Schreibens iſt. Weiter unten
wird mehr davon vorkommen; denn zu einem guten Poeten
gehoͤrt auch ein guter Geſchmack. Aus dem vorhergehenden
aber ſchluͤſſe ich, daß wir die zu einem wahren Dichter gehoͤ-
rigen Eigenſchafften von denjenigen lernen muͤſſen, die das
innere Weſen der Poeſie eingeſehen, die Regeln der Voll-
kommenheit erforſchet, daraus ihre Schoͤnheiten entſtehen,
und alſo von allem was ſie an einem Gedichte loben und ſchel-
ten, den gehoͤrigen Grund anzuzeigen wiſſen. Wenn man

ein

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/108>, abgerufen am 02.03.2025.