Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Das II. Capitel
gantze Poeſie nichts anders ſey, als eine Nachahmung
menſchlicher Handlungen, u. daß alſo der Unterſcheid verſchie-
dener Gedichte bloß auf die mancherley Arten der Nachah-
mung ankomme. Man koͤnne aber die Handlungen der
Menſchen in gute und boͤſe eintheilen, und die Sitten der
Welt waͤren alſo nur durch dieſe beyden Eigenſchafften unter-
ſchieden. Wer alſo Menſchen abbilden wolle: der koͤnne ſie
entweder beſſer, oder ſchlechter vorſtellen als ſie ſind; oder
dieſelben gantz aͤhnlich ſchildern. Dieſes erlaͤutert er durch
das Exempel der Mahler, und ziehet es hernach auf verſchie-
dene Arten der Poeſie. Dieſes giebt meines Erachtens An-
leitung genug, wie man einen Poeten zu characteriſiren habe.

Jch ſage alſo erſtlich: Ein Poet ſey ein geſchickter Nach-
ahmer aller natuͤrlichen Dinge; und dieſes hat er mit
den Mahlern, Muſicverſtaͤndigen u. a. m. gemein. Er iſt aber
zum andern von ihnen unterſchieden, durch die Art ſeiner
Nachahmung, und die Mittel, wodurch er ſie vollziehet.
Der Mahler ahmet ſie durch Pinſel und Farben nach; der
Muſicus durch den Tact und die Harmonie; der Poet aber
durch eine tactmaͤßig abgemeſſene, oder ſonſt wohl eingerich-
tete Rede; oder welches gleich viel iſt, durch eine harmoniſche
und wohlklingende Schrifft, die wir ein Gedichte nennen.

So fremde vielen dieſe Beſchreibung eines Dichters
vorkommet, ſo vollſtaͤndig und fruchtbar iſt ſie in der That.
Ein Poet wird dadurch nicht nur von den obgedachten freyen
Kuͤnſten; ſondern auch von allen andern Theilen der Gelehr-
ſamkeit unterſchieden. Ein Geſchichtſchreiber ſoll nicht nach-
ahmen, was die Menſchen zu thun pflegen, oder wahrſchein-
licher Weiſe gethan haben koͤnnten, thun ſollten oder wuͤrden,
wenn ſie in ſolchen Umſtaͤnden befindlich waͤren: ſondern man
fordert von ihm, daß er getreulich dasjenige erzehlen ſolle, was
ſich hier oder da vor Begebenheiten zugetragen. Ein Redner
ſoll nicht nachahmen was andre Leute thun; ſondern die Leute
uͤberreden, etwas vor wahr oder falſch zu halten, und ſie be-
wegen etwas zu thun oder zu laſſen. Ein Weltweiſer iſt gleich-
falls von der Nachahmung ſehr weit entfernet, indem er uns
die Gruͤnde von der Moͤglichkeit aller Dinge unterſuchen leh-

ret.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/110
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/110>, abgerufen am 02.03.2025.