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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Charactere eines Poeten.
ret. Wie die Rechts-Gelehrſamkeit, Arzeney-Kunſt und
andre Wiſſenſchafften mehr von der Poeſie unterſchieden
ſind, das wird ein jeder ſelbſt leicht abnehmen koͤnnen.

Es iſt wahr; man macht hier verſchiedene Einwuͤrfe.
Der Geſchichtſchreiber, ſagt man, ſchildert ja auch diejeni-
gen Perſonen ab, von welchen er uns Erzehlungen macht.
Er fuͤhrt ſeine Helden wohl gar redend ein, und laͤſt ſie offt
Dinge ſagen, die ſie zwar haͤtten ſagen koͤnnen, aber in der
That niemahls geſagt haben: wie wir in griechiſchen und
lateiniſchen Scribenten haͤufige Exempel davon vor Augen
haben. Der Zweifel iſt werth daß er beantwortet werde.

Jch ſage alſo vors erſte: Nicht alles was ein Geſchicht-
ſchreiber thut, das thut er als ein Geſchichtſchreiber. Z. E.
Er ſchreibt auch nach den Regeln der Sprachkunſt: Wer
glaubt aber deswegen, daß die richtige Schreibart zum We-
ſen der Hiſtorie gehoͤre, und nicht vielmehr der Grammatic
eigen ſey? Ein Geſchichtſchreiber kan freylich wohl auch mo-
raliſiren, und politiſche Anmerckungen in ſeine Erzehlungen
miſchen, wie Tacitus und andre gethan: Gehoͤrt das aber
eigentlich zur Hiſtorie? und iſt dieſes deswegen nicht vor eines
Sittenlehrers und Staatskuͤndigen eigentliche Pflicht zu hal-
ten? Eben ſo gehts mit den Bildern und erdichteten Reden ſo
in Geſchichtbuͤchern vorkommen. Sie ſind poetiſche Kunſt-
ſtuͤcke, die ein Geſchichtſchreiber nur entlehnet, um ſeine
trocknen Erzehlungen dadurch ein wenig anmuthiger zu ma-
chen. Er iſt gleichſam wie ein Bildſchnitzer beſchaffen, der
die Geſichter und Kleidungen ſeiner Kunſtſtuͤcke mit Pinſel
und Farben uͤbermahlet: Nicht als wenn dieß eigentlich ſein
Werck waͤre; ſondern weil er einer andern Kunſt Huͤlfe
braucht, ſeine Arbeit zur Vollkommenheit zu bringen.

Vors andre habens auch die Critici an einigen Ge-
ſchichtſchreibern vorlaͤngſt gemißbilliget, daß ſie die Regeln
der hiſtoriſchen Schreibart gar zu ſehr aus den Augen geſetzet.
Man leſe nur nach was einige von dem Florus, und le Clerc
vom Cur tius, wegen ſeiner gekuͤnſtelten Beſchreibungen ge-
urtheilet. Man hat kein Bedencken getragen, dieſen Scri-
benten eine poetiſche Schreibart zuzueignen; welches ſattſam

zei-
F 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/111>, abgerufen am 02.03.2025.