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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das I. Capitel

Unſer Poet fordert alſo von einem Dichter, er ſolle den Him-
mel bey ſich fuͤhlen, ja ſcharf und geiſtig ſeyn. Das zielet
ebenfalls auf das gute Naturell oder den faͤhigen Kopf eines
Dichters: denn

‒ wer nicht von Natur hiezu iſt wie gebohren,
Bey dem iſt Kunſt und Fleiß und Ubung auch verlohren.
Hoͤr, was der Roͤmer ſpricht: Die Stadt giebt jaͤhrlich zwar
Der Buͤrgermeiſter zwey: Jedoch nicht alle Jahr
Kommt ein Poet hervor. So viel hat das zu ſagen,
Wenn jemand will mit Recht das Lorber-Kraͤntzlein tragen.
Rachel. Sat. der Poet.

Das iſt nun meines Erachtens die beſte Erklaͤrung ſo
man von dem Goͤttlichen in der Poeſie geben kan; davon ſo
viel ſtreitens unter den Gelehrten iſt. Ein gluͤcklicher muntrer
Kopf iſt es, wie man insgemein redet; oder ein lebhaffter
Witz, wie ein Weltweiſer ſprechen moͤchte. Dieſer Witz
iſt eine Gemuͤths-Krafft, welche die Aehnlichkeit der Dinge
leicht wahrnehmen, und alſo eine Vergleichung zwiſchen
ihnen anſtellen kan. Sie ſetzet die Scharfſinnigkeit zum
Grunde, welche ein Vermoͤgen der Seelen anzeiget, viel an
einem Dinge wahrzunehmen, welches ein andrer, der gleich-
ſam einen ſtumpfen oder bloͤden Sinn und Verſtand hat,
nicht wuͤrde beobachtet haben. Je groͤſſer nun dieſe Scharf-
ſinnigkeit bey einem jungen Menſchen iſt, je aufgeweckter ſein
Kopf iſt, wie man zu reden pflegt; deſto groͤſſer kan auch ſein
Witz werden, deſto ſinnreicher werden ſeine Gedancken ſeyn.
Denn wo man viel Eigenſchafften der Dinge angemercket
hat, auf alle Kleinigkeiten bey einer Perſon, Handlung,
Begebenheit u. ſ. w. Acht gegeben: da kan man deſto leichter
die Aehnlichkeit einer ſolchen Perſon, Handlung, Begeben-
heit oder Sache mit andern dergleichen Dingen wahrneh-
men. Die Einbildungs-Krafft nehmlich bringet bey den
gegenwaͤrtigen Empfindungen ſehr leicht wiederum die Be-
griffe hervor, die wir ſonſt ſchon gehabt; wenn ſie nur die
geringſte Aehnlichkeit damit haben. Alle dieſe Gemuͤths-
Kraͤffte nun, gehoͤren in einem hohen Grade vor denjenigen,
der geſchickt nachahmen ſoll. Und ein Poet muß dergeſtalt,

ſowohl

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/114>, abgerufen am 02.03.2025.