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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Charactere eines Poeten.
ſowohl als ein Mahler, Bildſchnitzer u. ſ. w. eine ſtarcke
Einbildungs-Krafft, viel Scharfſinnigkeit und einen groſſen
Witz ſchon von Natur beſitzen, wenn er den Nahmen eines
Dichters mit Recht fuͤhren will.

Doch alle dieſe natuͤrliche Gaben ſind an und vor ſich
ſelbſt noch roh und unvollkommen, wenn ſie nicht aufgeweckt
und von ihrer anklebenden Unrichtigkeit geſaubert werden.
Viel witzige Koͤpfe verroſten gleichſam bey ihrer guten Faͤhig-
keit, aus Mangel der Anfuͤhrung. Kinder, denen es an
Unterricht fehlet, bleiben bey aller ihrer natuͤrlichen Geſchick-
lichkeit dennoch ſtecken: Und wenn ſie ſich gleich unter andern
ihres gleichen durch ein lebhaffteres Weſen hervorthun; ſo
iſt doch alle ihr Witz gleichſam ein ungebautes Feld, das nur
wilde Pflantzen hervortreibet; ein ſelbſt wachſender Baum,
der nur ungeſtalte Aeſte und Reiſer hervorſproſſet. Man
kan aber junge Knaben beyzeiten aufwecken, wenn man ihnen
bald allerley ſinnreiche Schrifften zu leſen giebt; wenn man
ſie auf die trefflichſten Stellen derſelben aufmerckſam ma-
chet; ihnen die Schoͤnheit derſelben recht vor Augen ſtellet,
und durch ein vernuͤnftiges Lob ihrer Verfaſſer, ſie anſpornet
nach gleicher Ehre zu ſtreben.

Dieſes thut man, wenn die Jugend ſchon ihren Verſtand
einiger maſſen brauchen kan: der Grund aber kan noch fruͤ-
her dazu geleget werden, wenn man ſie beyzeiten im Zeichnen
oder Reißen unterweiſen laͤſt. Es glaubt niemand, was dieſe
Ubung jungen Leuten vor Vortheil ſchaffet; als wer ſie mit
philoſophiſchen Augen anſieht. Wer einen vor Augen lie-
genden Riß nachmahlen will, der muß ſehr genau auf alle
gerade und krumme Linien, Verhaͤltniſſe, Groͤſſen, Stel-
lungen, Entfernungen, Erhebungen, Schattirungen, Strich-
lein und allerkleineſte Puncte Achtung geben. Durch der-
gleichen Ubung und Bemuͤhung erlangt man alſo einen hohen
Grad der Aufmerckſamkeit auf jede vorfallende Sache;
welche endlich zu einer Fertigkeit gedeyhet, in groſſer Ge-
ſchwindigkeit, und faſt im Augenblicke viel an einer Sache
wahrzunehmen; welche Fertigkeit wir vorhin die Scharf-
ſinnigkeit genannt. Jndem aber ein ſolcher Knabe ſich ferner

bemuͤ-
F 4

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/115>, abgerufen am 02.03.2025.