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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das II. Capitel
bemuͤhet, ſeinen Riß, dem vorgelegten Muſterbilde aͤhnlich
zu machen; ſo muß er die Aehnlichkeiten zwiſchen beyden
wahrnehmen lernen: das iſt ſeinen Witz uͤben. Faͤngt er
endlich gar an wirckliche Perſonen zu ſchildern, oder Gegen-
den und Landſchafften zu mahlen, die er wircklich vor ſich
ſiehet: So wird er noch fertiger. Am hoͤchſten bringt ers
endlich, wenn er aus ſeiner eigenen Erfindung gantze Hiſto-
rien wohl zu entwerfen, und auf eine ſehr lebhaffte, natuͤrliche
und folglich anmuthige Art auszumahlen geſchickt wird.
Dergleichen Ubungen formiren unvermerckt Poetiſche Gei-
ſter. Denn dafern durch das Studiren, dergleichen jungen
Leuten zugleich die Fertigkeit in der Sprache, die Kenntniß
vieler Sachen, nebſt den Regeln der gebundenen Schreibart
beygebracht wird: So werden ſie hernach eben ſo geſchickt
mit der Feder, als mit Pinſel und Farben, die Nachahmung
natuͤrlicher Dinge zu vollziehen.

Denn das muß man nothwendig wiſſen, daß es mit
Einbildungs-Krafft, Scharfſinnigkeit und Witz bey einem
Poeten nicht ausgerichtet iſt. Dieß iſt der Grund von ſeiner
Geſchicklichkeit, den die Natur legt: aber es gehoͤrt zu dem
Naturelle auch die Kunſt und Gelehrſamkeit. Muß doch
ein Mahler, der was rechtes thun will, in der Meß-Kunſt,
Perſpectiv, Mythologie, Hiſtorie, Bau-Kunſt, ja Logic
und Moral was gethan haben; wenn er es zu einiger Voll-
kommenheit bringen will. So wird denn ein Poet, der auch
die unſichtbaren Gedancken und Neigungen menſchlicher
Gemuͤther nachzuahmen hat, ſich nicht ohne eine weitlaͤuftige
Gelehrſamkeit behelfen koͤnnen. Es iſt keine Wiſſenſchafft
von ſeinem Bezircke gantz ausgeſchloſſen. Er muß zum we-
nigſten von allem was wiſſen, in allen Theilen der unter uns
bluͤhenden Gelahrtheit ſich ziemlicher maſſen umgeſehen
haben. Ein Poet hat Gelegenheit von allen Dingen zu
ſchreiben. Macht er nun Fehler, die von ſeiner Unwiſſenheit
in Kuͤnſten und Wiſſenſchafften zeugen; ſo verliert er ſein
Anſehen. Ein einzig Wort giebt offt ſeine Einſicht in einer
Sache, oder auch ſeine Unerfahrenheit zu verſtehen. Ein
einzig Wort kan ihn alſo in Hochachtung und in Verachtung

ſetzen,

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/116>, abgerufen am 02.03.2025.