bemühet, seinen Riß, dem vorgelegten Musterbilde ähnlich zu machen; so muß er die Aehnlichkeiten zwischen beyden wahrnehmen lernen: das ist seinen Witz üben. Fängt er endlich gar an wirckliche Personen zu schildern, oder Gegen- den und Landschafften zu mahlen, die er wircklich vor sich siehet: So wird er noch fertiger. Am höchsten bringt ers endlich, wenn er aus seiner eigenen Erfindung gantze Histo- rien wohl zu entwerfen, und auf eine sehr lebhaffte, natürliche und folglich anmuthige Art auszumahlen geschickt wird. Dergleichen Ubungen formiren unvermerckt Poetische Gei- ster. Denn dafern durch das Studiren, dergleichen jungen Leuten zugleich die Fertigkeit in der Sprache, die Kenntniß vieler Sachen, nebst den Regeln der gebundenen Schreibart beygebracht wird: So werden sie hernach eben so geschickt mit der Feder, als mit Pinsel und Farben, die Nachahmung natürlicher Dinge zu vollziehen.
Denn das muß man nothwendig wissen, daß es mit Einbildungs-Krafft, Scharfsinnigkeit und Witz bey einem Poeten nicht ausgerichtet ist. Dieß ist der Grund von seiner Geschicklichkeit, den die Natur legt: aber es gehört zu dem Naturelle auch die Kunst und Gelehrsamkeit. Muß doch ein Mahler, der was rechtes thun will, in der Meß-Kunst, Perspectiv, Mythologie, Historie, Bau-Kunst, ja Logic und Moral was gethan haben; wenn er es zu einiger Voll- kommenheit bringen will. So wird denn ein Poet, der auch die unsichtbaren Gedancken und Neigungen menschlicher Gemüther nachzuahmen hat, sich nicht ohne eine weitläuftige Gelehrsamkeit behelfen können. Es ist keine Wissenschafft von seinem Bezircke gantz ausgeschlossen. Er muß zum we- nigsten von allem was wissen, in allen Theilen der unter uns blühenden Gelahrtheit sich ziemlicher massen umgesehen haben. Ein Poet hat Gelegenheit von allen Dingen zu schreiben. Macht er nun Fehler, die von seiner Unwissenheit in Künsten und Wissenschafften zeugen; so verliert er sein Ansehen. Ein einzig Wort giebt offt seine Einsicht in einer Sache, oder auch seine Unerfahrenheit zu verstehen. Ein einzig Wort kan ihn also in Hochachtung und in Verachtung
setzen,
Das II. Capitel
bemuͤhet, ſeinen Riß, dem vorgelegten Muſterbilde aͤhnlich zu machen; ſo muß er die Aehnlichkeiten zwiſchen beyden wahrnehmen lernen: das iſt ſeinen Witz uͤben. Faͤngt er endlich gar an wirckliche Perſonen zu ſchildern, oder Gegen- den und Landſchafften zu mahlen, die er wircklich vor ſich ſiehet: So wird er noch fertiger. Am hoͤchſten bringt ers endlich, wenn er aus ſeiner eigenen Erfindung gantze Hiſto- rien wohl zu entwerfen, und auf eine ſehr lebhaffte, natuͤrliche und folglich anmuthige Art auszumahlen geſchickt wird. Dergleichen Ubungen formiren unvermerckt Poetiſche Gei- ſter. Denn dafern durch das Studiren, dergleichen jungen Leuten zugleich die Fertigkeit in der Sprache, die Kenntniß vieler Sachen, nebſt den Regeln der gebundenen Schreibart beygebracht wird: So werden ſie hernach eben ſo geſchickt mit der Feder, als mit Pinſel und Farben, die Nachahmung natuͤrlicher Dinge zu vollziehen.
Denn das muß man nothwendig wiſſen, daß es mit Einbildungs-Krafft, Scharfſinnigkeit und Witz bey einem Poeten nicht ausgerichtet iſt. Dieß iſt der Grund von ſeiner Geſchicklichkeit, den die Natur legt: aber es gehoͤrt zu dem Naturelle auch die Kunſt und Gelehrſamkeit. Muß doch ein Mahler, der was rechtes thun will, in der Meß-Kunſt, Perſpectiv, Mythologie, Hiſtorie, Bau-Kunſt, ja Logic und Moral was gethan haben; wenn er es zu einiger Voll- kommenheit bringen will. So wird denn ein Poet, der auch die unſichtbaren Gedancken und Neigungen menſchlicher Gemuͤther nachzuahmen hat, ſich nicht ohne eine weitlaͤuftige Gelehrſamkeit behelfen koͤnnen. Es iſt keine Wiſſenſchafft von ſeinem Bezircke gantz ausgeſchloſſen. Er muß zum we- nigſten von allem was wiſſen, in allen Theilen der unter uns bluͤhenden Gelahrtheit ſich ziemlicher maſſen umgeſehen haben. Ein Poet hat Gelegenheit von allen Dingen zu ſchreiben. Macht er nun Fehler, die von ſeiner Unwiſſenheit in Kuͤnſten und Wiſſenſchafften zeugen; ſo verliert er ſein Anſehen. Ein einzig Wort giebt offt ſeine Einſicht in einer Sache, oder auch ſeine Unerfahrenheit zu verſtehen. Ein einzig Wort kan ihn alſo in Hochachtung und in Verachtung
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[88/0116]
Das II. Capitel
bemuͤhet, ſeinen Riß, dem vorgelegten Muſterbilde aͤhnlich
zu machen; ſo muß er die Aehnlichkeiten zwiſchen beyden
wahrnehmen lernen: das iſt ſeinen Witz uͤben. Faͤngt er
endlich gar an wirckliche Perſonen zu ſchildern, oder Gegen-
den und Landſchafften zu mahlen, die er wircklich vor ſich
ſiehet: So wird er noch fertiger. Am hoͤchſten bringt ers
endlich, wenn er aus ſeiner eigenen Erfindung gantze Hiſto-
rien wohl zu entwerfen, und auf eine ſehr lebhaffte, natuͤrliche
und folglich anmuthige Art auszumahlen geſchickt wird.
Dergleichen Ubungen formiren unvermerckt Poetiſche Gei-
ſter. Denn dafern durch das Studiren, dergleichen jungen
Leuten zugleich die Fertigkeit in der Sprache, die Kenntniß
vieler Sachen, nebſt den Regeln der gebundenen Schreibart
beygebracht wird: So werden ſie hernach eben ſo geſchickt
mit der Feder, als mit Pinſel und Farben, die Nachahmung
natuͤrlicher Dinge zu vollziehen.
Denn das muß man nothwendig wiſſen, daß es mit
Einbildungs-Krafft, Scharfſinnigkeit und Witz bey einem
Poeten nicht ausgerichtet iſt. Dieß iſt der Grund von ſeiner
Geſchicklichkeit, den die Natur legt: aber es gehoͤrt zu dem
Naturelle auch die Kunſt und Gelehrſamkeit. Muß doch
ein Mahler, der was rechtes thun will, in der Meß-Kunſt,
Perſpectiv, Mythologie, Hiſtorie, Bau-Kunſt, ja Logic
und Moral was gethan haben; wenn er es zu einiger Voll-
kommenheit bringen will. So wird denn ein Poet, der auch
die unſichtbaren Gedancken und Neigungen menſchlicher
Gemuͤther nachzuahmen hat, ſich nicht ohne eine weitlaͤuftige
Gelehrſamkeit behelfen koͤnnen. Es iſt keine Wiſſenſchafft
von ſeinem Bezircke gantz ausgeſchloſſen. Er muß zum we-
nigſten von allem was wiſſen, in allen Theilen der unter uns
bluͤhenden Gelahrtheit ſich ziemlicher maſſen umgeſehen
haben. Ein Poet hat Gelegenheit von allen Dingen zu
ſchreiben. Macht er nun Fehler, die von ſeiner Unwiſſenheit
in Kuͤnſten und Wiſſenſchafften zeugen; ſo verliert er ſein
Anſehen. Ein einzig Wort giebt offt ſeine Einſicht in einer
Sache, oder auch ſeine Unerfahrenheit zu verſtehen. Ein
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/116>, abgerufen am 02.03.2025.
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