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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das II. Capitel
Denn dieß gilt dahin nicht, daß dieſe Schwierigkeit
Dich laͤßig machen ſoll. Der Gaben Unterſcheid
Der hebt nicht alles auf. Kanſt du dem Uber-Reichen
An ſeinem groſſen Schatz und Vorrath nicht wohl gleichen,
So iſt dir wenig gnug. Spann alle Sinnen an,
Wer weiß was nicht dein Fleiß dir mehr erwerben kan.
Schreib wenig, wo nicht viel; doch das nach Arbeit ſchmecket.
Ein kleines Wercklein hat offt groſſen Ruhm erwecket.
Zwey Zeilen oder drey von Buchnern aufgeſetzt;
Sind billig mehr als dieß mein gantzes Buch geſchaͤtzt.
Nur eine Fliege wohl und nach der Kunſt gemahlet,
Jſt ihres Lobes werth, und wird ſowohl bezahlet,
Als nach des Lebens Maaß ein groſſer Elephant,
Den nur ein Sudler hat geſchmieret von der Hand.
Kanſt du kein Opitz ſeyn, kein theurer Flemming werden,
O es iſt Raum genug vom Himmel bis zur Erden ꝛc.
Rachelius Sat. der Poet.

Vor allen Dingen aber iſt einem wahren Dichter eine
gruͤndliche Erkenntniß des Menſchen noͤthig, ja gantz unent-
behrlich. Ein Poet ahmet hauptſaͤchlich die Handlungen
der Menſchen nach, die von ihrem freyen Willen herruͤhren,
und vielmahls aus den verſchiedenen Neigungen des Ge-
muͤths und hefftigen Affecten ihren Urſprung haben. Daher
muß derſelbe ja die Natur und Beſchaffenheit des Willens,
der ſinnlichen Begierde, und des ſinnlichen Abſcheues in allen
ihren mannigfaltigen Geſtalten gruͤndlich einſehen lernen.
Wie wuͤrde es ihm ſonſt moͤglich ſeyn, einen Geitzigen, Stol-
zen, Verſchwendriſchen, Zaͤnckiſchen, Verliebten, Trau-
rigen, Verzagten u. ſ. w. recht zu characteriſiren? Alle Be-
wegungen des Willens entſtehen aus den Meynungen und
Urtheilen des Verſtandes, ſo wie dieſe in den verſchiedenen
Vorſtellungen der Sinne ihren Grund haben. Der Poet
muß alſo auch die Gemuͤths-Kraͤffte der vernuͤnftigen Seele,
und ihren verſchiedenen, ſowohl boͤſen als guten Gebrauch
kennen; damit er thoͤrichte Leute thoͤricht, und ſo ferner Aber-
glaͤubiſche, Leichtglaͤubige, Unglaͤubige, Vernuͤnftler, Gruͤb-
ler, Zweifler, Einfaͤltige, Spitzfuͤndige, Verſchlagene,
Dumme und Kluge nach ihrer gehoͤrigen Art abzuſchildern
und nachzuahmen im Stande ſey. Sind ferner die Handlun-

gen

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/118>, abgerufen am 02.03.2025.