gen der Menschen entweder gut oder böse: so wird er nicht im Stande seyn dieselben recht zu beurtheilen, wenn er nicht das Recht der Natur, die Sittenlehre und Staatskunst gründlich versteht. Das ist nun diejenige Wissenschafft von den Charactern und Pflichten der Menschen, die Horatz in seiner obstehenden Dichtkunst so eifrig von einem Poeten for- dert, und ihm zu wiederholten mahlen einschärfet. Boileau thut desgleichen:
Que la nature donc soit votre etude unique, Auteurs, qui pretendez aux honueurs du Comique, Quiconque entend bien l'homme, & d'un esprit profond De tant de coeurs cachez a penetre le fond, Qui scait bien co que c'est, qu'un Prodigue, un Avare, Un honnete homme, un Fat, un Jaloux, un Bizarre, Sur une Scene heureuse il peut les etaler, Et les faire a nos yeux vivre, agir, & parler. Presentez-en par tout les images naives, Que chacuny soit peint des couleurs les plus vives: La nature feconde en bizarres Portraits, Dans chaque ame est marquee a de differens traits: Un geste la decouvre, un rien la fait paroitre; Mais tout esprit n'a pas des yeux pour la connoitre. Art. Poet. Ch. IV.
So nothwendig nun einem Poeten die Philosophie ist; so starck muß auch seine Beurtheilungs-Krafft seyn. Es würde nichts helfen witzig und scharfsinnig zu seyn; wenn der Witz übel angebracht würde, oder gar nicht rechter Art wäre. Eine gar zu hitzige Einbildungs-Krafft macht unsinnige Dichter; dafern das Feuer der Phantasie nicht durch eine gesunde Vernunft gemäßiget wird. Nicht alle Einfälle sind gleich schön, gleich wohl gegründet, gleich natürlich und wahrschein- lich. Das Urtheil muß Richter darüber seyn. Es ist nirgends leichter ausgeschweifet, als in der Poesie. Wer seinen regel- losen Trieben den Zügel schiessen läßt, dem geht es wie dem jungen Phaeton. Er hat wilde Pferde zu regieren, aber we- nig Verstand und Kräffte sie zu bändigen und auf der rechten Bahn zu halten. Sie reissen ihn fort, und er muß folgen wohin sie wollen, bis er sich in den Abgrund stürtzet. So ist es mit einem gar zu feurigen poetischen Geiste auch bewandt.
Er
Vom Charactere eines Poeten.
gen der Menſchen entweder gut oder boͤſe: ſo wird er nicht im Stande ſeyn dieſelben recht zu beurtheilen, wenn er nicht das Recht der Natur, die Sittenlehre und Staatskunſt gruͤndlich verſteht. Das iſt nun diejenige Wiſſenſchafft von den Charactern und Pflichten der Menſchen, die Horatz in ſeiner obſtehenden Dichtkunſt ſo eifrig von einem Poeten for- dert, und ihm zu wiederholten mahlen einſchaͤrfet. Boileau thut desgleichen:
Que la nature donc ſoit votre étude unique, Auteurs, qui pretendez aux honueurs du Comique, Quiconque entend bien l’homme, & d’un eſprit profond De tant de cœurs cachez a penetré le fond, Qui ſçait bien co que c’eſt, qu’un Prodigue, un Avare, Un honnête homme, un Fat, un Jaloux, un Bizarre, Sur une Scene heureuſe il peut les etaler, Et les faire à nos yeux vivre, agir, & parler. Preſentez-en par tout les images naives, Que chacuny ſoit peint des couleurs les plus vives: La nature feconde en bizarres Portraits, Dans chaque ame eſt marquée à de differens traits: Un geſte la découvre, un rien la fait paroitre; Mais tout eſprit n’a pas des yeux pour la connoitre. Art. Poet. Ch. IV.
So nothwendig nun einem Poeten die Philoſophie iſt; ſo ſtarck muß auch ſeine Beurtheilungs-Krafft ſeyn. Es wuͤrde nichts helfen witzig und ſcharfſinnig zu ſeyn; wenn der Witz uͤbel angebracht wuͤrde, oder gar nicht rechter Art waͤre. Eine gar zu hitzige Einbildungs-Krafft macht unſinnige Dichter; dafern das Feuer der Phantaſie nicht durch eine geſunde Vernunft gemaͤßiget wird. Nicht alle Einfaͤlle ſind gleich ſchoͤn, gleich wohl gegruͤndet, gleich natuͤrlich und wahrſchein- lich. Das Urtheil muß Richter daruͤber ſeyn. Es iſt nirgends leichter ausgeſchweifet, als in der Poeſie. Wer ſeinen regel- loſen Trieben den Zuͤgel ſchieſſen laͤßt, dem geht es wie dem jungen Phaeton. Er hat wilde Pferde zu regieren, aber we- nig Verſtand und Kraͤffte ſie zu baͤndigen und auf der rechten Bahn zu halten. Sie reiſſen ihn fort, und er muß folgen wohin ſie wollen, bis er ſich in den Abgrund ſtuͤrtzet. So iſt es mit einem gar zu feurigen poetiſchen Geiſte auch bewandt.
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Vom Charactere eines Poeten.
gen der Menſchen entweder gut oder boͤſe: ſo wird er nicht
im Stande ſeyn dieſelben recht zu beurtheilen, wenn er nicht
das Recht der Natur, die Sittenlehre und Staatskunſt
gruͤndlich verſteht. Das iſt nun diejenige Wiſſenſchafft von
den Charactern und Pflichten der Menſchen, die Horatz in
ſeiner obſtehenden Dichtkunſt ſo eifrig von einem Poeten for-
dert, und ihm zu wiederholten mahlen einſchaͤrfet. Boileau
thut desgleichen:
Que la nature donc ſoit votre étude unique,
Auteurs, qui pretendez aux honueurs du Comique,
Quiconque entend bien l’homme, & d’un eſprit profond
De tant de cœurs cachez a penetré le fond,
Qui ſçait bien co que c’eſt, qu’un Prodigue, un Avare,
Un honnête homme, un Fat, un Jaloux, un Bizarre,
Sur une Scene heureuſe il peut les etaler,
Et les faire à nos yeux vivre, agir, & parler.
Preſentez-en par tout les images naives,
Que chacuny ſoit peint des couleurs les plus vives:
La nature feconde en bizarres Portraits,
Dans chaque ame eſt marquée à de differens traits:
Un geſte la découvre, un rien la fait paroitre;
Mais tout eſprit n’a pas des yeux pour la connoitre.
Art. Poet. Ch. IV.
So nothwendig nun einem Poeten die Philoſophie iſt; ſo
ſtarck muß auch ſeine Beurtheilungs-Krafft ſeyn. Es wuͤrde
nichts helfen witzig und ſcharfſinnig zu ſeyn; wenn der Witz
uͤbel angebracht wuͤrde, oder gar nicht rechter Art waͤre. Eine
gar zu hitzige Einbildungs-Krafft macht unſinnige Dichter;
dafern das Feuer der Phantaſie nicht durch eine geſunde
Vernunft gemaͤßiget wird. Nicht alle Einfaͤlle ſind gleich
ſchoͤn, gleich wohl gegruͤndet, gleich natuͤrlich und wahrſchein-
lich. Das Urtheil muß Richter daruͤber ſeyn. Es iſt nirgends
leichter ausgeſchweifet, als in der Poeſie. Wer ſeinen regel-
loſen Trieben den Zuͤgel ſchieſſen laͤßt, dem geht es wie dem
jungen Phaeton. Er hat wilde Pferde zu regieren, aber we-
nig Verſtand und Kraͤffte ſie zu baͤndigen und auf der rechten
Bahn zu halten. Sie reiſſen ihn fort, und er muß folgen
wohin ſie wollen, bis er ſich in den Abgrund ſtuͤrtzet. So iſt
es mit einem gar zu feurigen poetiſchen Geiſte auch bewandt.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/119>, abgerufen am 02.03.2025.
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