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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das II. Capitel
Er reiſt ſich leicht aus den Schrancken der Vernunft, und
es entſtehen lauter Fehler aus ſeiner Hitze, wenn er nicht durch
ein reifes Urtheil gezaͤhmet wird. Statius, Claudianus,
Lucanus und der tragiſche Seneca koͤnnen uns unter den La-
teinern zur Warnung dienen. St. Evremont haͤlt den
Brebeuf, der die Pharſal des Lucans uͤberſetzt, ſeinem Ori-
ginale nicht nur gleich; ſondern ſagt gar daß er denſelben noch
an wildem Feuer der Einbildung uͤbertroffen habe. Von
den Jtalienern und Spaniern hat uns Bouhours in hundert
Exempeln die Fruͤchte gar zu hitziger Geiſter gewieſen, die
keine Pruͤfung der Vernunft aushalten. Von unſern Lan-
desleuten mag ich nicht Exempel anfuͤhren. Es iſt bekannt,
daß Hofmanswaldau und Lohenſtein auch dem Jtalieniſchen
Geſchmacke gefolget, und ihr Feuer nicht allemahl zu maͤßigen
gewuſt. Viele von ihren Anbetern ſind noch weiter gegangen
als ſie; aber ich weiß nur einen einzigen Hrn. Neukirch, der
beyzeiten umgekehrt, und wieder der Vernunft und Natur
nachzugehen angefangen: wie bereits aus dem VIten Theile
der Hofm. W. Ged. 101 S. angefuͤhret worden. Jch kan
alſo nicht unterlaſſen, abermahl eine Stelle aus dem Boileau
herzuſetzen, worinn er ſeine poetiſche Lehrlinge vermahnet,
die geſunde Vernunft nie aus den Augen zu ſetzen.

La plûpart emportez d’une fougue inſenſée,
Toujours loin du droit ſens vont chercher leur penſée,
Ils croiroient s’abaiſſer dans leurs vers monſtrueux,
S’ils penſoient ce qu’un autre a pû penſer comme eux.
Evitons ces excés. Laiſſons à l’Italie,
De tous ces faux brillans l’eclatante folie,
Tout doit tendre au bon ſens: mais pour y parvenir
Le chemin eſt gliſſant & penible à tenir,
Pour peu qu’on s’en écarte, auſſitôt on ſe noye
La Raiſon, pour marcher, n’a ſouvent qu’une voye.
Art. Poet. Ch. I.

Auſſer allen dieſen Eigenſchafften des Verſtandes die ein
wahrer Poet beſitzen und wohl anwenden muß, ſoll er auch
von rechtswegen ein ehrliches tugendliebendes Gemuͤthe ha-
ben. Der Beweis davon iſt leicht. Ein Dichter ahmet
die Handlungen der Menſchen nach; die entweder gut oder

boͤſe

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/120>, abgerufen am 02.03.2025.