Er reist sich leicht aus den Schrancken der Vernunft, und es entstehen lauter Fehler aus seiner Hitze, wenn er nicht durch ein reifes Urtheil gezähmet wird. Statius, Claudianus, Lucanus und der tragische Seneca können uns unter den La- teinern zur Warnung dienen. St. Evremont hält den Brebeuf, der die Pharsal des Lucans übersetzt, seinem Ori- ginale nicht nur gleich; sondern sagt gar daß er denselben noch an wildem Feuer der Einbildung übertroffen habe. Von den Jtalienern und Spaniern hat uns Bouhours in hundert Exempeln die Früchte gar zu hitziger Geister gewiesen, die keine Prüfung der Vernunft aushalten. Von unsern Lan- desleuten mag ich nicht Exempel anführen. Es ist bekannt, daß Hofmanswaldau und Lohenstein auch dem Jtalienischen Geschmacke gefolget, und ihr Feuer nicht allemahl zu mäßigen gewust. Viele von ihren Anbetern sind noch weiter gegangen als sie; aber ich weiß nur einen einzigen Hrn. Neukirch, der beyzeiten umgekehrt, und wieder der Vernunft und Natur nachzugehen angefangen: wie bereits aus dem VIten Theile der Hofm. W. Ged. 101 S. angeführet worden. Jch kan also nicht unterlassen, abermahl eine Stelle aus dem Boileau herzusetzen, worinn er seine poetische Lehrlinge vermahnet, die gesunde Vernunft nie aus den Augen zu setzen.
La plaupart emportez d'une fougue insensee, Toujours loin du droit sens vont chercher leur pensee, Ils croiroient s'abaisser dans leurs vers monstrueux, S'ils pensoient ce qu'un autre a pau penser comme eux. Evitons ces exces. Laissons a l'Italie, De tous ces faux brillans l'eclatante folie, Tout doit tendre au bon sens: mais pour y parvenir Le chemin est glissant & penible a tenir, Pour peu qu'on s'en ecarte, aussitot on se noye La Raison, pour marcher, n'a souvent qu'une voye. Art. Poet. Ch. I.
Ausser allen diesen Eigenschafften des Verstandes die ein wahrer Poet besitzen und wohl anwenden muß, soll er auch von rechtswegen ein ehrliches tugendliebendes Gemüthe ha- ben. Der Beweis davon ist leicht. Ein Dichter ahmet die Handlungen der Menschen nach; die entweder gut oder
böse
Das II. Capitel
Er reiſt ſich leicht aus den Schrancken der Vernunft, und es entſtehen lauter Fehler aus ſeiner Hitze, wenn er nicht durch ein reifes Urtheil gezaͤhmet wird. Statius, Claudianus, Lucanus und der tragiſche Seneca koͤnnen uns unter den La- teinern zur Warnung dienen. St. Evremont haͤlt den Brebeuf, der die Pharſal des Lucans uͤberſetzt, ſeinem Ori- ginale nicht nur gleich; ſondern ſagt gar daß er denſelben noch an wildem Feuer der Einbildung uͤbertroffen habe. Von den Jtalienern und Spaniern hat uns Bouhours in hundert Exempeln die Fruͤchte gar zu hitziger Geiſter gewieſen, die keine Pruͤfung der Vernunft aushalten. Von unſern Lan- desleuten mag ich nicht Exempel anfuͤhren. Es iſt bekannt, daß Hofmanswaldau und Lohenſtein auch dem Jtalieniſchen Geſchmacke gefolget, und ihr Feuer nicht allemahl zu maͤßigen gewuſt. Viele von ihren Anbetern ſind noch weiter gegangen als ſie; aber ich weiß nur einen einzigen Hrn. Neukirch, der beyzeiten umgekehrt, und wieder der Vernunft und Natur nachzugehen angefangen: wie bereits aus dem VIten Theile der Hofm. W. Ged. 101 S. angefuͤhret worden. Jch kan alſo nicht unterlaſſen, abermahl eine Stelle aus dem Boileau herzuſetzen, worinn er ſeine poetiſche Lehrlinge vermahnet, die geſunde Vernunft nie aus den Augen zu ſetzen.
La plûpart emportez d’une fougue inſenſée, Toujours loin du droit ſens vont chercher leur penſée, Ils croiroient s’abaiſſer dans leurs vers monſtrueux, S’ils penſoient ce qu’un autre a pû penſer comme eux. Evitons ces excés. Laiſſons à l’Italie, De tous ces faux brillans l’eclatante folie, Tout doit tendre au bon ſens: mais pour y parvenir Le chemin eſt gliſſant & penible à tenir, Pour peu qu’on s’en écarte, auſſitôt on ſe noye La Raiſon, pour marcher, n’a ſouvent qu’une voye. Art. Poet. Ch. I.
Auſſer allen dieſen Eigenſchafften des Verſtandes die ein wahrer Poet beſitzen und wohl anwenden muß, ſoll er auch von rechtswegen ein ehrliches tugendliebendes Gemuͤthe ha- ben. Der Beweis davon iſt leicht. Ein Dichter ahmet die Handlungen der Menſchen nach; die entweder gut oder
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ein reifes Urtheil gezaͤhmet wird. Statius, Claudianus,
Lucanus und der tragiſche Seneca koͤnnen uns unter den La-
teinern zur Warnung dienen. St. Evremont haͤlt den
Brebeuf, der die Pharſal des Lucans uͤberſetzt, ſeinem Ori-
ginale nicht nur gleich; ſondern ſagt gar daß er denſelben noch
an wildem Feuer der Einbildung uͤbertroffen habe. Von
den Jtalienern und Spaniern hat uns Bouhours in hundert
Exempeln die Fruͤchte gar zu hitziger Geiſter gewieſen, die
keine Pruͤfung der Vernunft aushalten. Von unſern Lan-
desleuten mag ich nicht Exempel anfuͤhren. Es iſt bekannt,
daß Hofmanswaldau und Lohenſtein auch dem Jtalieniſchen
Geſchmacke gefolget, und ihr Feuer nicht allemahl zu maͤßigen
gewuſt. Viele von ihren Anbetern ſind noch weiter gegangen
als ſie; aber ich weiß nur einen einzigen Hrn. Neukirch, der
beyzeiten umgekehrt, und wieder der Vernunft und Natur
nachzugehen angefangen: wie bereits aus dem VIten Theile
der Hofm. W. Ged. 101 S. angefuͤhret worden. Jch kan
alſo nicht unterlaſſen, abermahl eine Stelle aus dem Boileau
herzuſetzen, worinn er ſeine poetiſche Lehrlinge vermahnet,
die geſunde Vernunft nie aus den Augen zu ſetzen.
La plûpart emportez d’une fougue inſenſée,
Toujours loin du droit ſens vont chercher leur penſée,
Ils croiroient s’abaiſſer dans leurs vers monſtrueux,
S’ils penſoient ce qu’un autre a pû penſer comme eux.
Evitons ces excés. Laiſſons à l’Italie,
De tous ces faux brillans l’eclatante folie,
Tout doit tendre au bon ſens: mais pour y parvenir
Le chemin eſt gliſſant & penible à tenir,
Pour peu qu’on s’en écarte, auſſitôt on ſe noye
La Raiſon, pour marcher, n’a ſouvent qu’une voye.
Art. Poet. Ch. I.
Auſſer allen dieſen Eigenſchafften des Verſtandes die ein
wahrer Poet beſitzen und wohl anwenden muß, ſoll er auch
von rechtswegen ein ehrliches tugendliebendes Gemuͤthe ha-
ben. Der Beweis davon iſt leicht. Ein Dichter ahmet
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/120>, abgerufen am 02.03.2025.
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