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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
uͤbrigen vorziehen, der nach den Grnndſaͤtzen der Wiſſen-
ſchafft die groͤſte Vollkommenheit haben wuͤrde. Hier wuͤrde
man aber ſchwerlich ſagen, dieſer Kenner habe nach ſeinem
Geſchmacke gewehlet; vielmehr wuͤrde es heiſſen: Er habe
die Riſſe nach den Regeln gepruͤfet, und vermoͤge ſeiner Ein-
ſicht befunden, daß der erwehlte der beſte geweſen.

Aus dieſer bisher erlaͤuterten Anmerckung erhellet nun,
daß zwo Perſonen von einer Sache, aus verſchiedener Er-
kenntniß, ſowohl einerley, als zweyerley Urtheile faͤllen koͤnnen.
Waͤre es im obigen Falle nicht leicht moͤglich, daß der unge-
lehrte Buͤrger ſich von den verſchiedenen Riſſen eben den
ausſuchte, welchen auch hernach der Bau-verſtaͤndige Kenner
vor den beſten erklaͤrete? Koͤnnte aber auch nicht gerade das
Wiederſpiel geſchehen, daß ihm nehmlich ein andrer Entwurf
beſſer anſtuͤnde; an welchem hernach der Baumeiſter viel
Fehler auszuſetzen faͤnde? Ein jeder ſieht wohl daß beydes
moͤglich iſt. Aber was folgt daraus? Dieſes: 1) daß Leute,
die nach dem bloſſen Geſchmacke urtheilen, ſehr uneins ſeyn
koͤnnen, 2) Daß beyde Urtheile zugleich nicht wahr ſeyn
koͤnnen; weil ſie nehmlich wiederwaͤrtig ſind; Daß endlich
3) dasjenige Urtheil dem andern vorzuziehen ſey, ſo mit den
Regeln der Baukunſt und dem Ausſpruche eines Meiſters in
dieſer Wiſſenſchafft, einſtimmig iſt. Die erſten beyden
Folgerungen ſind wohl unumſtoͤßlich: wegen der dritten aber
kan man auch nicht viel Zweifel tragen. Denn wie waͤre es
moͤglich daß derjenige Riß der beſte ſeyn koͤnnte, der wieder
alle Regeln der Architectur gemacht waͤre? Das waͤre eben
ſo, als wenn eine Muſic ſchoͤn ſeyn koͤnnte, die wieder alle
muſicaliſche Regeln liefe. Die Regeln nehmlich, die auch
in freyen Kuͤnſten eingefuͤhret worden, kommen nicht auf den
bloßen Eigenſinn der Menſchen an: ſondern haben ihren
Grund in der unveraͤnderlichen Natur der Dinge ſelbſt; in
der Ubereinſtimmung des Mannigfaltigen; in der Ordnung
und Harmonie. Dieſe Geſetze nun, die durch langwierige
Erfahrung und vieles Nachſinnen unterſuchet, entdecket und
beſtaͤtiget worden, bleiben unverbruͤchlich und feſte ſtehen;
wenn gleich zuweilen jemand nach ſeinem Geſchmacke, dem-

jenigen
G 4

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/131>, abgerufen am 02.03.2025.