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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das III. Capitel
jenigen Wercke den Vorzug zugeſtuͤnde, welches dawieder
mehr oder weniger verſtoſſen haͤtte.

Nunmehro wird es leicht ſeyn, die Beſchreibung des gu-
ten und uͤbeln Geſchmackes zu machen: Jener iſt nehmlich
der von der Schoͤnheit eines Dinges nach der bloßen Empfin-
dung richtig urtheilende Verſtand, in Sachen, davon man
kein deutliches und gruͤndliches Erkenntniß hat. Dieſer her-
gegen iſt ebenfalls der Verſtand, der nach der Empfindung
von undeutlich erkannten Sachen urtheilet; aber ſich in ſol-
chen ſeinen Urtheilen betruͤget. Jch rechne zufoͤrderſt den
Geſchmack zum Verſtande; weil ich ihn zu keiner andern
Gemuͤths-Krafft bringen kan. Weder der Witz, noch die
Einbildungs-Krafft, noch das Gedaͤchtnis, noch die Vernunft
koͤnnen einigen Anſpruch darauf machen. Die Sinne aber
haben auch gar kein Recht dazu, man muͤſte denn einen ſech-
ſten Sinn davon machen wollen. Jch ſage aber daß er ein
urtheilender Verſtand ſey: weil diejenigen, ſo ihn wircklich
zu Unterſcheidung der Dinge anwenden, entweder aͤuſſerlich,
oder doch innerlich den Ausſpruch thun: Dieß iſt ſchoͤn und
jenes nicht. Jch ſetze ferner, daß ſich dieſes Urtheil auf die
bloße Empfindung gruͤnde; und verſtehe die innerliche Em-
pfindung einer ſchoͤnen Sache, die entweder wircklich auſſer
uns verhanden iſt, oder von unſrer eignen Phantaſie hervor-
gebracht worden: Wie z. E. ein Mahler ſich in Gedancken
einen Entwurf eines Gemaͤhldes machen, und nach ſeinem
Geſchmacke von der Schoͤnheit deſſelben urtheilen kan. Es
muß aber dieſe Empfindung einer ſolchen Sache uns noth-
wendig die Schoͤnheit eines Dinges vorſtellen: Denn dieſe
allein iſt es, womit der Geſchmack zu thun hat. Man ent-
ſcheidet dadurch niemahls eine andre Frage, als: Ob uns
etwas gefaͤllt oder nicht? das Wohlgefallen aber entſteht
allezeit aus einer Vorſtellung der Schoͤnheit, ſie mag nun
eine wirckliche oder vermeynte ſeyn. Dieſe Schoͤnheit wird
aber nur undeutlich, obwohl ſehr klar, empfunden; weil der-
jenige, dem ſie gefaͤllt, nicht im Stande iſt zu ſagen warum
ſie ihm gefaͤllt. Zum wenigſten wird der groͤſte Theil der-
ſelben keine Deutlichkeit haben. Denn ſo bald man von einer

Schoͤn-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/132>, abgerufen am 02.03.2025.