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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das III. Capitel
Art der Auferziehung bringt ſie allererſt ins Geſchicke. Sie
muß erweckt, angefuͤhrt, von Fehlern geſaubert, und auf
dem guten Wege ſo lange erhalten werden, bis ſie ihres
Thuns gewiß wird. Der Geſchmack iſt alſo dem Menſchen
ſo was natuͤrliches als ſeine uͤbrige Gemuͤths-Kraͤffte. Ein
jeder, der Sinne und Verſtand hat, beſitzt auch eine Ge-
ſchicklichkeit von der Schoͤnheit empfindlicher Dinge zu
urtheilen. Und ſo lange dieſe nicht ihre Natur und Eigen-
ſchafften verlieren, wird ein jedes vernuͤnftiges Weſen davon
ſagen koͤnnen, ob ſie ihm wohl oder uͤbel gefallen.

Man will ferner wiſſen: Ob gewiſſen Leuten der gute,
andern aber der ſchlimme Geſchmack angebohren ſey? Jch
antworte eben ſo wie vorhin. So wenig einem eine geſunde,
dem andern eine verderbte Natur angebohren iſt: So wenig
iſt ſolches auch bey dem Geſchmacke zu vermuthen. Die
Faͤhigkeit neugebohrner Kinder iſt zu allem gleichguͤltig. Man
kan aus ihnen machen was man will. Erzieht es unter den
Bauren, es wird baͤuriſch dencken und reden; unter den
Buͤrgern, es wird buͤrgerlich urtheilen; unter Soldaten,
es wird kriegeriſche Dinge im Kopfe haben; unter Gelehrten,
es wird nach Art ſtudirter Leute vernuͤnfteln und gruͤbeln;
bey Hofe, es wird ſich von lauter Luſtbarkeiten und Regie-
rungs-Sachen Chimaͤren erdencken. Die Kinder ſind wie
Affen. Wie mans ihnen vormachet, ſo machen ſie es nach.
Man lobe in ihrer zarten Jugend etwas; Sie werdens bald
hoch ſchaͤtzen lernen: Man verachte etwas; Sie werdens
bald verwerfen lernen. Jhre erſten Urtheile richten ſich
nach den Urtheilen derer mit denen ſie immer umgehen. Der
Ausſpruch ihrer Eltern oder Waͤrterinnen iſt ſchon zulaͤnglich
ihnen etwas als ſchoͤn oder heßlich einzupraͤgen: Zumahl
wenn ſie mercken, daß man dabey ſeine Gedancken auf ſie
nicht richtet, ſondern vor ſich davon urtheilet. So gewehnet
ſich allmaͤhlig ihr Verſtand durch die bloſſe Nachahmung,
dieſes weiß und jenes ſchwartz zu heiſſen. Und dadurch entſte-
het entweder ein guter oder uͤbler Geſchmack; nachdem dieje-
nigen ihn haben, zu deren Schuͤlern ſie das Gluͤcke gemacht,
ehe ſie noch geſchickt waren, dieſelben vor ihre Lehrer zu erkeñen.

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/134>, abgerufen am 02.03.2025.