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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Vom guten Geſchmacke eines Poeten.

So groß hier das Gluͤck der Kinder iſt, die von klugen
Eltern gebohren worden und in die Haͤnde vernuͤnftiger Lehr-
meiſter gerathen: ſo ſehr iſt es zu bedauren, daß die groͤſte
Anzahl derſelben von Jugend auf verderbet wird. Die ein-
faͤltigſten Weibs-Perſonen legen den erſten Grund zu dem
verderbten Geſchmacke, den viele haben. Jhre verkehrte Art
zu dencken und von Dingen zu urtheilen, macht einen tiefern
Eindruck in die Seele eines zarten Knaben, als mancher ſich
einbildet. Die gleichſam hervor keimenden Gemuͤths-Kraͤffte
ſind nicht im Stande ihre Thorheiten zu verwerfen: vielmehr
nehmen ſie auf guten Glauben das erſte vor das beſte an.
Dieſes wird mit der Zeit der Maaßſtab aller ihrer uͤbrigen
Wirckungen. Was ihren erſten Eindruͤckungen gemaͤß iſt,
das nennen ſie hernach recht und gut, ſchoͤn und angenehm.
Alles uͤbrige iſt falſch, boͤſe, garſtig, verdruͤßlich. Warum?
Sie habens von Kindesbeinen an nicht anders gelernt. Das
iſt meines Erachtens die erſte Quelle des uͤbeln Geſchmackes,
der in den meiſten Laͤndern noch ſo allgemein iſt.

Fragt man weiter, welches denn das Mittel ſey, den gu-
ten Geſchmack bey Erwachſenen zu befoͤrdern? So ſage ich:
Nichts anders als der Gebrauch der geſunden Vernunft.
Man halte nichts vor ſchoͤn oder heßlich, weil man es ſo nennen
gehoͤret, oder weil alle Leute die man kennet, es davor halten;
ſondern man unterſuche es an und vor ſich, ob es ſo ſey. Man
muß ſeine eigne fuͤnf Sinne zu Rathe ziehen: Dieſe werden
bald die falſche Schoͤnheit von der wahren, den Firniß von
rechtem Marmor, das Flitter-Gold von dem aͤchten unter-
ſcheiden, und allen Betrug entdecken lernen. Durch dieſes
Mittel hat vorzeiten Griechenland die Regeln der meiſten
freyen Kuͤnſte erfunden, und dadurch den guten Geſchmack
auf etliche tauſend Jahre bey ſich unwandelbar gemacht.
Die Mahlerey, Architectur, Schnitzkunſt, Muſic, Poeſie
und Redekunſt ſind daſelbſt erfunden und faſt zur Vollkom-
menheit gebracht. Das macht die Griechen waren die ver-
nuͤnftigſten Leute von der Welt. Alles philoſophirte daſelbſt:
alles urtheilte frey, und folgte ſeinem eigenen Kopfe. Daher
entdeckte man nach und nach die wahrhafften Schoͤnheiten

der

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/135>, abgerufen am 02.03.2025.