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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
tectoniſchen, Perſpectiviſchen und Harmoniſchen Regeln
nichts als einen lautern Eigenſinn zum Vater haͤtten: Die
ſechs Seulen-Ordnungen waͤren eben ſo willkuͤhrlich, als die
wunderſeltſamen Zierrathe in der Gothiſchen Baukunſt;
Die Lehre vom Geſichts-Puncte und der Entfernung in Ge-
maͤhlden, waͤre nur eine Phantaſie; Und die Gleichfoͤrmigkeit
oder Wiederwaͤrtigkeit der Thoͤne, haͤtte nur die Einbildung
zur Mutter. Man wird ſich durch dergleichen Einwuͤrfe
nur auslachens wuͤrdig machen. Alle dieſe Kuͤnſtler, wenn
ſie anders geſchickte Leute ſind, werden haarklein zu zeigen
wiſſen, was vor eine natuͤrliche Nothwendigkeit in dem allen
ſteckt, und den Grund ihrer Regeln, in der Empfindung und
geſunden Vernunft entdecken. Jn der Beredſamkeit und
Poeſie geht es nicht anders. Kan hier gleich das Verhaͤltniß
nicht mit Zahlen und Linien ausgedruͤcket, mit Zirckel und
Lineal abgemeſſen, und ſo handgreiflich gemacht werden, als
in den andern Dingen, wo man durch Huͤlfe der Geometrie
alles ſehr ins Licht ſetzen kan: So folgt doch deßwegen nicht,
daß hier alles willkuͤhrlich ſey. Unſre Gedancken ſind ſo vieler
Harmonie, Ordnung, Abmeſſung und Verhaͤltniß faͤhig,
als Figuren und Thoͤne. Nur es gehoͤren ſcharfſinnigere
Koͤpfe dazu, die Schoͤnheiten ſolcher Dinge, die man weder
fuͤhlen noch greifen kan, recht auszugruͤblen, und in ihren
erſten Quellen zu unterſuchen. Daher hat auch der Tief-
ſinnigſte von den alten Weltweiſen ſich zuerſt daruͤber machen
muͤſſen, die Regeln der Dicht- und Redekunſt zu entwerfen,
welches vor ihm ſich noch niemand unterſtanden hatte. Die-
jenigen bleiben alſo nur an der aͤuſſerſten Schale kleben, die
ſich einbilden, die poetiſchen Schoͤnheiten waͤren gantz will-
kuͤhrlich; Heute koͤnnte dieß, und morgen was anders gefal-
len; Jn Rom koͤnnte was heßlich ſeyn, ſo in Paris oder Lon-
den unvergleichlich waͤre. Nicht der Beyfall macht eine
Sache ſchoͤn; ſondern die Schoͤnheit erwirbt ſich bey Ver-
ſtaͤndigen den Beyfall.

Zweytens iſt es auch gantz falſch, daß wir uns den Athe-
nienſern mit Recht an die Seite ſetzen, oder ihnen gar die
Stirne bieten koͤnnten. Sie haben viele Vorzuͤge gehabt,

deren

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/139>, abgerufen am 02.03.2025.