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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das III. Capitel
menheit nicht eingeſehen, ſo wird ſie doch faͤhig ſeyn, durch eine
zaͤrtliche Empfindung wahrzunehmen, ob dieſelben in einem
Gedichte, Gedancken, oder Ausputze deſſelben beobachtet
worden oder nicht.

Man hat endlich auch gefragt: Ob ein Scribent ſich nicht
vielmehr dem Geſchmacke ſeiner Zeiten, ſeines Ortes, oder
des Hofes; als den Regeln der Kunſt, zu bequemen Urſache
habe? Man meynt nehmlich, die erſten Regeln der freyen
Kuͤnſte, waͤren doch nur nach dem Geſchmacke des Athenien-
ſiſchen Volckes entworfen, indem ſich die Critici darinn auf
diejenigen Meiſterſtuͤcke beruffen und gegruͤndet, die den all-
gemeinen Beyfall erhalten hatten. Warum ſollen wir denn,
ſpricht man, unſern Kopf nach dem Athenienſiſchen Eigen-
ſinne richten? Warum ſollen wir heutiges Tages nicht das
Recht haben, das vor ſchoͤn zu halten, was uns gefaͤllt; ſondern
dasjenige, was den alten Griechen vor zwey tauſend Jahren
gefallen hat.

Der Einwurf ſcheint wichtig zu ſeyn, weil er unſrer
Eigenliebe ſchmeichelt. Er wuͤrde auch unaufloͤßlich ſeyn,
weun es ein bloßer Eigenſinn waͤre, der eine Sache vor ſchoͤn
erklaͤrete. Haͤtten ferner die Athenienſer weiter nichts zum
voraus vor uns, und waͤren wir ihnen in allen Stuͤcken gleich:
ſo koͤnnten wir uns ihnen mit Recht wiederſetzen. Allein
beydes verhaͤlt ſich gantz anders. Die Schoͤnheit eines
kuͤnſtlichen Werckes beruht nicht auf einem leeren Duͤnckel;
ſondern hat ihren feſten und nothwendigen Grund in der Na-
tur der Dinge. GOtt hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht
geſchaffen. Die natuͤrlichen Dinge ſind ſchoͤn; und wenn
alſo die Kunſt auch was ſchoͤnes hervor bringen will, muß ſie
dem Muſter der Natur nachahmen. Das genaue Ver-
haͤltniß, die Ordnung und richtige Abmeſſung aller Theile
daraus ein Ding beſteht, iſt die Quelle aller Schoͤnheit.
Die Nachahmung der Natur, kan alſo einem kuͤnſtlichen
Wercke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Ver-
ſtande gefaͤllig und angenehm wird.

Man verſuche es doch, und berede einen Baumeiſter,
Mahler oder Muſicverſtaͤndigen einmahl, daß ſeine Archi-

tectoni-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/138>, abgerufen am 02.03.2025.