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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Vom guten Geſchmacke eines Poeten.
mag ihnen ſagen, was man will: ſo bleiben ſie doch auf ihrem
Eigenſinne: weil ſie es vor ſchimpflich anſehen, ſich bey grauen
Haaren in ihren Urtheilen zu aͤndern, und dadurch einzuraͤu-
men, daß ſie ſo lange geirret und einen uͤbeln Geſchmack
gehabt.

Vel quia nil rectum, niſi quod placuit ſibi ducunt;
Vel quia turpe putant parere minoribus, & quae
Imberbes didicere, ſenes perdenda fateri.
Hor. L. II. Ep. I.

Junge Leute hingegen koͤnnen leichter ihren Geſchmack aͤn-
dern, wenn ſie gleich bereits verwehnet worden. Sie ſind in
ihrer Meynung noch ſo ſehr nicht verhaͤrtet; Sie trauen ih-
ren Urtheilen noch keine ſolche Unfehlbarkeit zu, daß ſie nicht
auch zuweilen falſch ſeyn koͤnnten; Sie geben alſo eher der
geſunden Vernunft Gehoͤr, und begreifen die Richtigkeit der
Regeln gar leicht. Ja wenn man ihnen gleich nicht die
Gruͤnde des guten Geſchmackes und die Quellen wahrer
Schoͤnheiten entdecken und begreiflich machen kan; weil ſie
etwa nicht ſtudiret haben oder ſonſt die gehoͤrige Faͤhigkeit
nicht beſitzen: So lernen ſie doch aus der bloßen Empfindung
endlich wohl urtheilen. Man darf ihnen nur was ſchoͤnes
zeigen, und ſie aufmerckſam darauf machen: ſo werden ſie es
gewahr. Denn mehrentheils gefaͤllt ihnen deswegen das
Schlechte, weil ſie noch nichts beſſers geſehen haben: Nicht
anders, wie mancher bloß daher in eine mittelmaͤßige Geſtalt
verliebt iſt, weil er noch keine rechte Schoͤnheit kennen zu ler-
nen Gelegenheit gehabt. Man zeige nur einem ſolchen Lieb-
haber eine vollkommenere Perſon als ſeine vermeynte Halb-
goͤttin iſt: Er wird ihrer entweder gar vergeſſen; oder
doch zum wenigſten den groͤſten Theil ſeiner Hochachtung
gegen dieſelbe verlieren.

Und ſo haͤtte ich wohl meines Erachtens in dieſem Ca-
pitel meinen Vorſatz ins Werck gerichtet, indem ich nicht
nur einen deutlichen Begriff von dem Geſchmacke uͤber-
haupt gegeben, ſondern auch die Regeln des guten Ge-
ſchmacks entdecket, und ihn dadurch von dem uͤbeln unter-

ſchie-
H 3

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/145>, abgerufen am 02.03.2025.