schieden; Ferner dieses gegen die Einwürfe vertheidiget, und endlich etliche zweifelhafte Fragen so bey dieser Ma- terie aufgeworfen worden, nach meinen Grundsätzen ent- schieden. Nunmehro sollte ich besondre Lehren geben, und zeigen, was denn in allerley Gedichten, Einfällen und Aus- drückungen dem guten oder übeln Geschmacke gemäß sey. Allein dieses ist eine Arbeit die alle folgende Capittel dieses Buches einnehmen wird, als in welchen ich stückweise die Regeln vortragen will, darnach die poetischen Schön- heiten beurtheilet werden müssen. Man mercke zum Be- schlusse die Regel Horatii an:
Interdum vulgus rectum videt; Est vbi peccat. L. II. Ep. I. Offt hat der Pöbel recht, und offtmahls fehlt er auch.
Jmgleichen was Seneca c. 20. de Vit. Beat. schreibt: Non tam bene cum rebus humanis agitur, vt meliora pluribus pla- ceant. Argumentum pessimi turba est.
Das vierdte Capitel. Von den drey Gattungen der Poe- tischen Nachahmung, und insonderheit von der Fabel.
DJe Nachahmung der Natur, darinn, wie oben ge- wiesen worden, das Wesen der gantzen Poesie be- steht, kan auf dreyerley Art geschehen. Die Erste ist eine bloße Beschreibung, oder sehr lebhaffte Schilderey von einer natürlichen Sache, die man nach allen ihren Ei- genschafften, Schönheiten, Fehlern, Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten seinen Lesern klar und deutlich vor die Augen mahlet, und gleichsam mit lebendigen Farben ent- wirfft, daß es fast eben so viel ist, als ob sie wircklich zugegen wäre. Dieses nun mit rechter Geschicklichkeit zu verrichten,
ist
Das IV. Capitel
ſchieden; Ferner dieſes gegen die Einwuͤrfe vertheidiget, und endlich etliche zweifelhafte Fragen ſo bey dieſer Ma- terie aufgeworfen worden, nach meinen Grundſaͤtzen ent- ſchieden. Nunmehro ſollte ich beſondre Lehren geben, und zeigen, was denn in allerley Gedichten, Einfaͤllen und Aus- druͤckungen dem guten oder uͤbeln Geſchmacke gemaͤß ſey. Allein dieſes iſt eine Arbeit die alle folgende Capittel dieſes Buches einnehmen wird, als in welchen ich ſtuͤckweiſe die Regeln vortragen will, darnach die poetiſchen Schoͤn- heiten beurtheilet werden muͤſſen. Man mercke zum Be- ſchluſſe die Regel Horatii an:
Interdum vulgus rectum videt; Eſt vbi peccat. L. II. Ep. I. Offt hat der Poͤbel recht, und offtmahls fehlt er auch.
Jmgleichen was Seneca c. 20. de Vit. Beat. ſchreibt: Non tam bene cum rebus humanis agitur, vt meliora pluribus pla- ceant. Argumentum peſſimi turba eſt.
Das vierdte Capitel. Von den drey Gattungen der Poe- tiſchen Nachahmung, und inſonderheit von der Fabel.
DJe Nachahmung der Natur, darinn, wie oben ge- wieſen worden, das Weſen der gantzen Poeſie be- ſteht, kan auf dreyerley Art geſchehen. Die Erſte iſt eine bloße Beſchreibung, oder ſehr lebhaffte Schilderey von einer natuͤrlichen Sache, die man nach allen ihren Ei- genſchafften, Schoͤnheiten, Fehlern, Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten ſeinen Leſern klar und deutlich vor die Augen mahlet, und gleichſam mit lebendigen Farben ent- wirfft, daß es faſt eben ſo viel iſt, als ob ſie wircklich zugegen waͤre. Dieſes nun mit rechter Geſchicklichkeit zu verrichten,
iſt
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Das IV. Capitel
ſchieden; Ferner dieſes gegen die Einwuͤrfe vertheidiget,
und endlich etliche zweifelhafte Fragen ſo bey dieſer Ma-
terie aufgeworfen worden, nach meinen Grundſaͤtzen ent-
ſchieden. Nunmehro ſollte ich beſondre Lehren geben, und
zeigen, was denn in allerley Gedichten, Einfaͤllen und Aus-
druͤckungen dem guten oder uͤbeln Geſchmacke gemaͤß ſey.
Allein dieſes iſt eine Arbeit die alle folgende Capittel dieſes
Buches einnehmen wird, als in welchen ich ſtuͤckweiſe
die Regeln vortragen will, darnach die poetiſchen Schoͤn-
heiten beurtheilet werden muͤſſen. Man mercke zum Be-
ſchluſſe die Regel Horatii an:
Interdum vulgus rectum videt; Eſt vbi peccat.
L. II. Ep. I.
Offt hat der Poͤbel recht, und offtmahls fehlt er auch.
Jmgleichen was Seneca c. 20. de Vit. Beat. ſchreibt: Non
tam bene cum rebus humanis agitur, vt meliora pluribus pla-
ceant. Argumentum peſſimi turba eſt.
Das vierdte Capitel.
Von den drey Gattungen der Poe-
tiſchen Nachahmung, und inſonderheit
von der Fabel.
DJe Nachahmung der Natur, darinn, wie oben ge-
wieſen worden, das Weſen der gantzen Poeſie be-
ſteht, kan auf dreyerley Art geſchehen. Die Erſte
iſt eine bloße Beſchreibung, oder ſehr lebhaffte Schilderey
von einer natuͤrlichen Sache, die man nach allen ihren Ei-
genſchafften, Schoͤnheiten, Fehlern, Vollkommenheiten
und Unvollkommenheiten ſeinen Leſern klar und deutlich vor
die Augen mahlet, und gleichſam mit lebendigen Farben ent-
wirfft, daß es faſt eben ſo viel iſt, als ob ſie wircklich zugegen
waͤre. Dieſes nun mit rechter Geſchicklichkeit zu verrichten,
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/146>, abgerufen am 02.03.2025.
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