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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von den Poetiſchen Nachahmungen.
iſt eine gar feine Gabe, und man hat es dem Homer zu
groſſem Lobe angemercket, daß ein beruͤhmter Griechiſcher
Mahler, der eine Minerva zu ſchildern willens war, zu dem
Ende erſt in der Jlias die Beſchreibung dieſer Goͤttin nach-
geſchlagen, durchgeleſen, und ſich dadurch eine lebhaffte Ab-
bildung von ihr gemachet. Solche Mahlerey eines Poeten
nun, erſtrecket ſich noch viel weiter, als die gemeine Mahler-
Kunſt. Dieſe kan nur vor die Augen mahlen, der Poet her-
gegen kan vor alle Sinne Schildereyen machen. Er wircket
in die Einbildungs-Krafft; und dieſe bringt aller empfindli-
chen Dinge Begriffe eben ſo leicht als Figuren und Farben
hervor. Ja er kan endlich auch geiſtliche Dinge, als da ſind
innerliche Bewegungen des Hertzens und die verborgenſten
Gedancken beſchreiben und abmahlen. Man kan hierbey
mit Nutzen nachleſen was Herr Bodmer in ſeinen vernuͤnft.
Ged. und Urtheilen von der Beredſamkeit vor feine Regeln
und Anmerckungen gegeben.

Doch dieſe Art der Poetiſchen Nachahmung iſt bey
aller ihrer Fuͤrtrefflichkeit nur die geringſte: Weßwegen ſie
auch Horatz im Anfange ſeiner Dicht-Kunſt vor unzulaͤng-
lich erklaͤret, einen wahren Poeten zu machen. Wenn ich die
beſten Bilder von der Welt in meinen Gedichten machen
koͤnnte, wuͤrde ich doch nur ein mittelmaͤßiger oder gar nur ein
kleiner Poet zu heiſſen verdienen: wenn ich nichts beſſers zu
machen wuͤſte. Ja ich koͤnnte wohl gar ein verdruͤßlicher
Dichter und Scribent werden, wenn ich meine Leſer mit un-
aufhoͤrlichen Mahlereyen und unendlichen Bildern eckelhafft
machte. Boileau hat dieſen Fehler am Scuderi ſchon an-
gemerckt und verworfen, wenn er in ſeiner Dicht-Kunſt
Ch. I. geſchrieben:

Un Auteur quelque fois trop plein de ſon objet,
J’amais ſans l’epuiſer n’abandonne un ſujet.
S’il rencontre un palais, il m’en depeint la face,
Il me promene aprés de terraſſe en terraſſe;
Ici s’offre un perron, là regne un corridor,
Là ce balcon s’enferme en un baluſtre d’or.
Il conte des plafonds les ronds & les ovales,
Ce ne ſont que feſtons, ce ne ſont qu’Aſtragales.
Je
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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/147>, abgerufen am 02.03.2025.