hersagte, und aus dem andern zuweilen seine Ubersetzun- gen vorlaß. Unter so vielen Unterredungen, so ich seit 1717 bis 1724 mit demselben gehabt, dachte derselbe denn auch einmahl, daß er nicht ungeneigt wäre, eine An- weisung zur Poesie zu schreiben: Nicht zwar auf den Schlag, als die gewöhnlichen Anleitungen wären, dar- an wir ja keinen Mangel hätten; sondern so, daß darinn der innere Character und das wahre Wesen eines jeden Gedichtes gewiesen würde. Damahls geschah es also, daß ich mir den ersten Begriff von einer Critischen Dicht-Kunst machte: deren Nutzbarkeit ich gar wohl ein- sahe; aber mirs noch nicht träumen ließ, daß ich mich der- einst an dergleichen Arbeit wagen sollte.
Jm Jahr 1724 kam ich nach Leipzig und ward in der unter Hn. Hofraths Menckens Aufsicht stehenden Poetischen, itzo Deutschen Gesellschafft, gewahr; daß man bey Verlesung eines Gedichtes unzehliche Anmerckungen machte, und solche Sachen, Gedancken und Ausdrückun- gen in Zweifel zog, die ich allezeit vor gut gehalten hatte. Jch fand selber wohl, daß die meisten so ungegründet nicht waren: und ob ich wohl in einigen Stücken auf mei- ner Meynung blieb, und die Einwürfe so man mir mach- te, vor ungegründet hielte; so war ich doch nicht im Stan- de dieselben zu heben, und meine Gewohnheit auf eine überzeugende Art zu vertheidigen. Eben damahls ka- men mir die Discurse der Mahler in die Hände, die mich durch so viele Beurtheilungen unsrer Poeten, noch begie- riger machten, alles aus dem Grunde zu untersuchen, und wo möglich, zu einer völligen Gewißheit zu kommen, was richtig oder unrichtig gedacht; schön, oder heßlich geschrie- ben; recht, oder unrecht, ausgeführet worden.
Dazu fand sich nun die schönste Gelegenheit, da ich
das
Vorrede.
herſagte, und aus dem andern zuweilen ſeine Uberſetzun- gen vorlaß. Unter ſo vielen Unterredungen, ſo ich ſeit 1717 bis 1724 mit demſelben gehabt, dachte derſelbe denn auch einmahl, daß er nicht ungeneigt waͤre, eine An- weiſung zur Poeſie zu ſchreiben: Nicht zwar auf den Schlag, als die gewoͤhnlichen Anleitungen waͤren, dar- an wir ja keinen Mangel haͤtten; ſondern ſo, daß darinn der innere Character und das wahre Weſen eines jeden Gedichtes gewieſen wuͤrde. Damahls geſchah es alſo, daß ich mir den erſten Begriff von einer Critiſchen Dicht-Kunſt machte: deren Nutzbarkeit ich gar wohl ein- ſahe; aber mirs noch nicht traͤumen ließ, daß ich mich der- einſt an dergleichen Arbeit wagen ſollte.
Jm Jahr 1724 kam ich nach Leipzig und ward in der unter Hn. Hofraths Menckens Aufſicht ſtehenden Poetiſchen, itzo Deutſchen Geſellſchafft, gewahr; daß man bey Verleſung eines Gedichtes unzehliche Anmerckungen machte, und ſolche Sachen, Gedancken und Ausdruͤckun- gen in Zweifel zog, die ich allezeit vor gut gehalten hatte. Jch fand ſelber wohl, daß die meiſten ſo ungegruͤndet nicht waren: und ob ich wohl in einigen Stuͤcken auf mei- ner Meynung blieb, und die Einwuͤrfe ſo man mir mach- te, vor ungegruͤndet hielte; ſo war ich doch nicht im Stan- de dieſelben zu heben, und meine Gewohnheit auf eine uͤberzeugende Art zu vertheidigen. Eben damahls ka- men mir die Diſcurſe der Mahler in die Haͤnde, die mich durch ſo viele Beurtheilungen unſrer Poeten, noch begie- riger machten, alles aus dem Grunde zu unterſuchen, und wo moͤglich, zu einer voͤlligen Gewißheit zu kommen, was richtig oder unrichtig gedacht; ſchoͤn, oder heßlich geſchrie- ben; recht, oder unrecht, ausgefuͤhret worden.
Dazu fand ſich nun die ſchoͤnſte Gelegenheit, da ich
das
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[0020]
Vorrede.
herſagte, und aus dem andern zuweilen ſeine Uberſetzun-
gen vorlaß. Unter ſo vielen Unterredungen, ſo ich ſeit
1717 bis 1724 mit demſelben gehabt, dachte derſelbe denn
auch einmahl, daß er nicht ungeneigt waͤre, eine An-
weiſung zur Poeſie zu ſchreiben: Nicht zwar auf den
Schlag, als die gewoͤhnlichen Anleitungen waͤren, dar-
an wir ja keinen Mangel haͤtten; ſondern ſo, daß darinn
der innere Character und das wahre Weſen eines jeden
Gedichtes gewieſen wuͤrde. Damahls geſchah es alſo,
daß ich mir den erſten Begriff von einer Critiſchen
Dicht-Kunſt machte: deren Nutzbarkeit ich gar wohl ein-
ſahe; aber mirs noch nicht traͤumen ließ, daß ich mich der-
einſt an dergleichen Arbeit wagen ſollte.
Jm Jahr 1724 kam ich nach Leipzig und ward in
der unter Hn. Hofraths Menckens Aufſicht ſtehenden
Poetiſchen, itzo Deutſchen Geſellſchafft, gewahr; daß man
bey Verleſung eines Gedichtes unzehliche Anmerckungen
machte, und ſolche Sachen, Gedancken und Ausdruͤckun-
gen in Zweifel zog, die ich allezeit vor gut gehalten hatte.
Jch fand ſelber wohl, daß die meiſten ſo ungegruͤndet
nicht waren: und ob ich wohl in einigen Stuͤcken auf mei-
ner Meynung blieb, und die Einwuͤrfe ſo man mir mach-
te, vor ungegruͤndet hielte; ſo war ich doch nicht im Stan-
de dieſelben zu heben, und meine Gewohnheit auf eine
uͤberzeugende Art zu vertheidigen. Eben damahls ka-
men mir die Diſcurſe der Mahler in die Haͤnde, die mich
durch ſo viele Beurtheilungen unſrer Poeten, noch begie-
riger machten, alles aus dem Grunde zu unterſuchen, und
wo moͤglich, zu einer voͤlligen Gewißheit zu kommen, was
richtig oder unrichtig gedacht; ſchoͤn, oder heßlich geſchrie-
ben; recht, oder unrecht, ausgefuͤhret worden.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/20>, abgerufen am 21.11.2024.
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