Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie.
Monden thun müsse. Astolph bedencket sich nicht lange, seine
irrende Ritterschafft, auch außer der Erdkugel fortzusetzen,
und alsbald ist ein feuriger Wagen da, der den Apostel und
Ritter durch die Lufft wegführt. Wie erstaunet Astolph
nicht, als er bey seiner Annäherung gewahr wird, daß der
Mond weit größer ist als er sonst aussieht, und daß er endlich
Land und Wasser, Berge und Ströme, Seen und Städte,
ja so gar Nymphen gewahr wird, die sich in den Wäldern
mit der Jagd belustigen. Man sollte dencken, Ariost sey den
neuern Philosophen zugethan gewesen, die den Mond sowohl
vor eine bewohnte Weltkugel halten als die Erde: Allein das
Folgende wird sattsam zeigen, daß man ihm diese Ehre nicht
anthun könne. Er findet auch ein seltsames Thal im Mon-
den, wo alles anzutreffen ist, was auf der Erde verlohren ge-
gangen; es mochte nun seyn was es wollte, Kron und
Scepter, Geld und Gut, Ehre und Ansehen, gute Hoffnung,
verschwendete Zeit, die Allmosen der Verstorbenen, die Lob-
gedichte auf große Herren, und sogar die Seufzer der Ver-
liebten.

Bey so vielen Wunderdingen, die der Ritter daselbst an-
traff, war denn auch eine unglaubliche Menge verlohrnes Ver-
standes daselbst zu finden. Da stunden unzehliche Gläser
mit einem subtilen Wässerchen angefüllet, auf deren jedem
der Nahme dessen geschrieben war, dem der Verstand zuge-
hört. Unter so vielen Gläsern solcher Leute, die Astolph alle-
zeit vor sehr klug gehalten hatte, und die doch so ziemlich voll
waren, fand er auch sein eigen Gläschen, welches er sogleich
erhaschte, und mit Erlaubnis des Apostels, zog er seinen Ver-
stand wie Ungarisch Wasser durch die Nase wieder in sich.
Das Glas Rolands traf er endlich auch an, und er bemäch-
tigte sich desselben, um es mit sich zurücke zu nehmen, weil
dieses der Zweck seiner Reise war. Er fand daß dasselbe sehr
schwer zu tragen war, weil Roland kaum etliche Tropfen da-
von übrig behalten, und sonst die Art desselben eben nicht die
subtilste gewesen seyn mochte. Hiebey fängt nun Ariost an,
einen verliebten Seufzer an seine Schöne zu thun, dergleichen
er mitten in seinem Heldengedichte fleißig zu thun pflegt.

Er

Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
Monden thun muͤſſe. Aſtolph bedencket ſich nicht lange, ſeine
irrende Ritterſchafft, auch außer der Erdkugel fortzuſetzen,
und alsbald iſt ein feuriger Wagen da, der den Apoſtel und
Ritter durch die Lufft wegfuͤhrt. Wie erſtaunet Aſtolph
nicht, als er bey ſeiner Annaͤherung gewahr wird, daß der
Mond weit groͤßer iſt als er ſonſt ausſieht, und daß er endlich
Land und Waſſer, Berge und Stroͤme, Seen und Staͤdte,
ja ſo gar Nymphen gewahr wird, die ſich in den Waͤldern
mit der Jagd beluſtigen. Man ſollte dencken, Arioſt ſey den
neuern Philoſophen zugethan geweſen, die den Mond ſowohl
vor eine bewohnte Weltkugel halten als die Erde: Allein das
Folgende wird ſattſam zeigen, daß man ihm dieſe Ehre nicht
anthun koͤnne. Er findet auch ein ſeltſames Thal im Mon-
den, wo alles anzutreffen iſt, was auf der Erde verlohren ge-
gangen; es mochte nun ſeyn was es wollte, Kron und
Scepter, Geld und Gut, Ehre und Anſehen, gute Hoffnung,
verſchwendete Zeit, die Allmoſen der Verſtorbenen, die Lob-
gedichte auf große Herren, und ſogar die Seufzer der Ver-
liebten.

Bey ſo vielen Wunderdingen, die der Ritter daſelbſt an-
traff, war denn auch eine unglaubliche Menge verlohꝛnes Ver-
ſtandes daſelbſt zu finden. Da ſtunden unzehliche Glaͤſer
mit einem ſubtilen Waͤſſerchen angefuͤllet, auf deren jedem
der Nahme deſſen geſchrieben war, dem der Verſtand zuge-
hoͤrt. Unter ſo vielen Glaͤſern ſolcher Leute, die Aſtolph alle-
zeit vor ſehr klug gehalten hatte, und die doch ſo ziemlich voll
waren, fand er auch ſein eigen Glaͤschen, welches er ſogleich
erhaſchte, und mit Erlaubnis des Apoſtels, zog er ſeinen Ver-
ſtand wie Ungariſch Waſſer durch die Naſe wieder in ſich.
Das Glas Rolands traf er endlich auch an, und er bemaͤch-
tigte ſich deſſelben, um es mit ſich zuruͤcke zu nehmen, weil
dieſes der Zweck ſeiner Reiſe war. Er fand daß daſſelbe ſehr
ſchwer zu tragen war, weil Roland kaum etliche Tropfen da-
von uͤbrig behalten, und ſonſt die Art deſſelben eben nicht die
ſubtilſte geweſen ſeyn mochte. Hiebey faͤngt nun Arioſt an,
einen verliebten Seufzer an ſeine Schoͤne zu thun, dergleichen
er mitten in ſeinem Heldengedichte fleißig zu thun pflegt.

Er
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0203" n="175"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von der Wahr&#x017F;cheinlichkeit in der Poe&#x017F;ie.</hi></fw><lb/>
Monden thun mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. A&#x017F;tolph bedencket &#x017F;ich nicht lange, &#x017F;eine<lb/>
irrende Ritter&#x017F;chafft, auch außer der Erdkugel fortzu&#x017F;etzen,<lb/>
und alsbald i&#x017F;t ein feuriger Wagen da, der den Apo&#x017F;tel und<lb/>
Ritter durch die Lufft wegfu&#x0364;hrt. Wie er&#x017F;taunet A&#x017F;tolph<lb/>
nicht, als er bey &#x017F;einer Anna&#x0364;herung gewahr wird, daß der<lb/>
Mond weit gro&#x0364;ßer i&#x017F;t als er &#x017F;on&#x017F;t aus&#x017F;ieht, und daß er endlich<lb/>
Land und Wa&#x017F;&#x017F;er, Berge und Stro&#x0364;me, Seen und Sta&#x0364;dte,<lb/>
ja &#x017F;o gar Nymphen gewahr wird, die &#x017F;ich in den Wa&#x0364;ldern<lb/>
mit der Jagd belu&#x017F;tigen. Man &#x017F;ollte dencken, Ario&#x017F;t &#x017F;ey den<lb/>
neuern Philo&#x017F;ophen zugethan gewe&#x017F;en, die den Mond &#x017F;owohl<lb/>
vor eine bewohnte Weltkugel halten als die Erde: Allein das<lb/>
Folgende wird &#x017F;att&#x017F;am zeigen, daß man ihm die&#x017F;e Ehre nicht<lb/>
anthun ko&#x0364;nne. Er findet auch ein &#x017F;elt&#x017F;ames Thal im Mon-<lb/>
den, wo alles anzutreffen i&#x017F;t, was auf der Erde verlohren ge-<lb/>
gangen; es mochte nun &#x017F;eyn was es wollte, Kron und<lb/>
Scepter, Geld und Gut, Ehre und An&#x017F;ehen, gute Hoffnung,<lb/>
ver&#x017F;chwendete Zeit, die Allmo&#x017F;en der Ver&#x017F;torbenen, die Lob-<lb/>
gedichte auf große Herren, und &#x017F;ogar die Seufzer der Ver-<lb/>
liebten.</p><lb/>
          <p>Bey &#x017F;o vielen Wunderdingen, die der Ritter da&#x017F;elb&#x017F;t an-<lb/>
traff, war denn auch eine unglaubliche Menge verloh&#xA75B;nes Ver-<lb/>
&#x017F;tandes da&#x017F;elb&#x017F;t zu finden. Da &#x017F;tunden unzehliche Gla&#x0364;&#x017F;er<lb/>
mit einem &#x017F;ubtilen Wa&#x0364;&#x017F;&#x017F;erchen angefu&#x0364;llet, auf deren jedem<lb/>
der Nahme de&#x017F;&#x017F;en ge&#x017F;chrieben war, dem der Ver&#x017F;tand zuge-<lb/>
ho&#x0364;rt. Unter &#x017F;o vielen Gla&#x0364;&#x017F;ern &#x017F;olcher Leute, die A&#x017F;tolph alle-<lb/>
zeit vor &#x017F;ehr klug gehalten hatte, und die doch &#x017F;o ziemlich voll<lb/>
waren, fand er auch &#x017F;ein eigen Gla&#x0364;schen, welches er &#x017F;ogleich<lb/>
erha&#x017F;chte, und mit Erlaubnis des Apo&#x017F;tels, zog er &#x017F;einen Ver-<lb/>
&#x017F;tand wie Ungari&#x017F;ch Wa&#x017F;&#x017F;er durch die Na&#x017F;e wieder in &#x017F;ich.<lb/>
Das Glas Rolands traf er endlich auch an, und er bema&#x0364;ch-<lb/>
tigte &#x017F;ich de&#x017F;&#x017F;elben, um es mit &#x017F;ich zuru&#x0364;cke zu nehmen, weil<lb/>
die&#x017F;es der Zweck &#x017F;einer Rei&#x017F;e war. Er fand daß da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;chwer zu tragen war, weil Roland kaum etliche Tropfen da-<lb/>
von u&#x0364;brig behalten, und &#x017F;on&#x017F;t die Art de&#x017F;&#x017F;elben eben nicht die<lb/>
&#x017F;ubtil&#x017F;te gewe&#x017F;en &#x017F;eyn mochte. Hiebey fa&#x0364;ngt nun Ario&#x017F;t an,<lb/>
einen verliebten Seufzer an &#x017F;eine Scho&#x0364;ne zu thun, dergleichen<lb/>
er mitten in &#x017F;einem Heldengedichte fleißig zu thun pflegt.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Er</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[175/0203] Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. Monden thun muͤſſe. Aſtolph bedencket ſich nicht lange, ſeine irrende Ritterſchafft, auch außer der Erdkugel fortzuſetzen, und alsbald iſt ein feuriger Wagen da, der den Apoſtel und Ritter durch die Lufft wegfuͤhrt. Wie erſtaunet Aſtolph nicht, als er bey ſeiner Annaͤherung gewahr wird, daß der Mond weit groͤßer iſt als er ſonſt ausſieht, und daß er endlich Land und Waſſer, Berge und Stroͤme, Seen und Staͤdte, ja ſo gar Nymphen gewahr wird, die ſich in den Waͤldern mit der Jagd beluſtigen. Man ſollte dencken, Arioſt ſey den neuern Philoſophen zugethan geweſen, die den Mond ſowohl vor eine bewohnte Weltkugel halten als die Erde: Allein das Folgende wird ſattſam zeigen, daß man ihm dieſe Ehre nicht anthun koͤnne. Er findet auch ein ſeltſames Thal im Mon- den, wo alles anzutreffen iſt, was auf der Erde verlohren ge- gangen; es mochte nun ſeyn was es wollte, Kron und Scepter, Geld und Gut, Ehre und Anſehen, gute Hoffnung, verſchwendete Zeit, die Allmoſen der Verſtorbenen, die Lob- gedichte auf große Herren, und ſogar die Seufzer der Ver- liebten. Bey ſo vielen Wunderdingen, die der Ritter daſelbſt an- traff, war denn auch eine unglaubliche Menge verlohꝛnes Ver- ſtandes daſelbſt zu finden. Da ſtunden unzehliche Glaͤſer mit einem ſubtilen Waͤſſerchen angefuͤllet, auf deren jedem der Nahme deſſen geſchrieben war, dem der Verſtand zuge- hoͤrt. Unter ſo vielen Glaͤſern ſolcher Leute, die Aſtolph alle- zeit vor ſehr klug gehalten hatte, und die doch ſo ziemlich voll waren, fand er auch ſein eigen Glaͤschen, welches er ſogleich erhaſchte, und mit Erlaubnis des Apoſtels, zog er ſeinen Ver- ſtand wie Ungariſch Waſſer durch die Naſe wieder in ſich. Das Glas Rolands traf er endlich auch an, und er bemaͤch- tigte ſich deſſelben, um es mit ſich zuruͤcke zu nehmen, weil dieſes der Zweck ſeiner Reiſe war. Er fand daß daſſelbe ſehr ſchwer zu tragen war, weil Roland kaum etliche Tropfen da- von uͤbrig behalten, und ſonſt die Art deſſelben eben nicht die ſubtilſte geweſen ſeyn mochte. Hiebey faͤngt nun Arioſt an, einen verliebten Seufzer an ſeine Schoͤne zu thun, dergleichen er mitten in ſeinem Heldengedichte fleißig zu thun pflegt. Er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/203
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/203>, abgerufen am 21.11.2024.