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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das VI. Capitel
Erstlich erklärt er alle heydnische Gottheiten vor Teufel, die
unter verschiedenen Nahmen; hernach berufft er sich auf den
Raub der Proserpina, als eine wahre Geschicht. Wer
hätte es dencken sollen, daß in der biblischen Materie vom
Falle der Engel das Heydenthum statt finden würde? Am
seltsamsten sieht sein Pandämonium aus, das ist der Ort,
wo die Teufel mit einander zu Rathe gegangen. Satan
hatte sie schon einmahl in einem weiten Felde zusammenbe-
ruffen, und eine Anrede an sie gehalten, und also schien es
vergebens zu seyn, daß er noch ein besondres Gebäude hätte,
wo er mit ihnen rathschlagen könnte. Aber der Poet scheint
ein Belieben getragen zu haben, sein Pandämonium nach
der Dorischen Ordnung zu bauen, es mit allerley Verzie-
rungen, als Karnießen und goldnen Blumen auszuschmü-
cken. Diese Erfindung scheint sich nun zwar nicht aufs beste
vor einen ernsthafften Milton zu schicken; aber noch schöner
kommt es heraus, wenn sich alle seine Teufel in Zwerge ver-
wandeln müssen, damit sie nur in dem gar zu engen Gebäu-
de Platz finden mögen. Lucifer indessen mit seinen vornehm-
sten Bedienten behalten ihre natürliche ungeheure Größe,
dagegen der gemeine Pöbel böser Geister nur in Gestalt klei-
ner Pygmeen erscheinen muß. Wenn das nicht das Lächer-
liche aufs höchste getrieben heist: so weiß ich nicht mehr, was
wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Erdichtungen seyn
sollen.

Noch eine Fabel ist indessen werth aus diesem Dichter
angemercket zu werden. Die Sünde wird aus dem Gehir-
ne des Satans, als eine Minerva aus dem Haupte Jupi-
ters gebohren. Satan aber zeuget von dieser seiner Tochter
abscheulicher Weise ein Kind, nehmlich den Tod; und die-
ses rasende und schmutzige Ungeheuer beschläft wieder seine
Mutter, so wie es der Vater mit seiner Tochter gemacht
hatte. Aus dieser neuen Blutschande wird ein gantzes
Schlangennest erzeuget, die in den Schooß ihrer Mutter
kriechen, und alle ihre Eingeweide verzehren, daher sie ent-
sprossen sind. Ob eine so schmutzige und wahrhafftig ab-
scheuliche Allegorie Wahrscheinlichkeit genug habe, will ich

aber-

Das VI. Capitel
Erſtlich erklaͤrt er alle heydniſche Gottheiten vor Teufel, die
unter verſchiedenen Nahmen; hernach berufft er ſich auf den
Raub der Proſerpina, als eine wahre Geſchicht. Wer
haͤtte es dencken ſollen, daß in der bibliſchen Materie vom
Falle der Engel das Heydenthum ſtatt finden wuͤrde? Am
ſeltſamſten ſieht ſein Pandaͤmonium aus, das iſt der Ort,
wo die Teufel mit einander zu Rathe gegangen. Satan
hatte ſie ſchon einmahl in einem weiten Felde zuſammenbe-
ruffen, und eine Anrede an ſie gehalten, und alſo ſchien es
vergebens zu ſeyn, daß er noch ein beſondres Gebaͤude haͤtte,
wo er mit ihnen rathſchlagen koͤnnte. Aber der Poet ſcheint
ein Belieben getragen zu haben, ſein Pandaͤmonium nach
der Doriſchen Ordnung zu bauen, es mit allerley Verzie-
rungen, als Karnießen und goldnen Blumen auszuſchmuͤ-
cken. Dieſe Erfindung ſcheint ſich nun zwar nicht aufs beſte
vor einen ernſthafften Milton zu ſchicken; aber noch ſchoͤner
kommt es heraus, wenn ſich alle ſeine Teufel in Zwerge ver-
wandeln muͤſſen, damit ſie nur in dem gar zu engen Gebaͤu-
de Platz finden moͤgen. Lucifer indeſſen mit ſeinen vornehm-
ſten Bedienten behalten ihre natuͤrliche ungeheure Groͤße,
dagegen der gemeine Poͤbel boͤſer Geiſter nur in Geſtalt klei-
ner Pygmeen erſcheinen muß. Wenn das nicht das Laͤcher-
liche aufs hoͤchſte getrieben heiſt: ſo weiß ich nicht mehr, was
wahrſcheinliche oder unwahrſcheinliche Erdichtungen ſeyn
ſollen.

Noch eine Fabel iſt indeſſen werth aus dieſem Dichter
angemercket zu werden. Die Suͤnde wird aus dem Gehir-
ne des Satans, als eine Minerva aus dem Haupte Jupi-
ters gebohren. Satan aber zeuget von dieſer ſeiner Tochter
abſcheulicher Weiſe ein Kind, nehmlich den Tod; und die-
ſes raſende und ſchmutzige Ungeheuer beſchlaͤft wieder ſeine
Mutter, ſo wie es der Vater mit ſeiner Tochter gemacht
hatte. Aus dieſer neuen Blutſchande wird ein gantzes
Schlangenneſt erzeuget, die in den Schooß ihrer Mutter
kriechen, und alle ihre Eingeweide verzehren, daher ſie ent-
ſproſſen ſind. Ob eine ſo ſchmutzige und wahrhafftig ab-
ſcheuliche Allegorie Wahrſcheinlichkeit genug habe, will ich

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[178/0206] Das VI. Capitel Erſtlich erklaͤrt er alle heydniſche Gottheiten vor Teufel, die unter verſchiedenen Nahmen; hernach berufft er ſich auf den Raub der Proſerpina, als eine wahre Geſchicht. Wer haͤtte es dencken ſollen, daß in der bibliſchen Materie vom Falle der Engel das Heydenthum ſtatt finden wuͤrde? Am ſeltſamſten ſieht ſein Pandaͤmonium aus, das iſt der Ort, wo die Teufel mit einander zu Rathe gegangen. Satan hatte ſie ſchon einmahl in einem weiten Felde zuſammenbe- ruffen, und eine Anrede an ſie gehalten, und alſo ſchien es vergebens zu ſeyn, daß er noch ein beſondres Gebaͤude haͤtte, wo er mit ihnen rathſchlagen koͤnnte. Aber der Poet ſcheint ein Belieben getragen zu haben, ſein Pandaͤmonium nach der Doriſchen Ordnung zu bauen, es mit allerley Verzie- rungen, als Karnießen und goldnen Blumen auszuſchmuͤ- cken. Dieſe Erfindung ſcheint ſich nun zwar nicht aufs beſte vor einen ernſthafften Milton zu ſchicken; aber noch ſchoͤner kommt es heraus, wenn ſich alle ſeine Teufel in Zwerge ver- wandeln muͤſſen, damit ſie nur in dem gar zu engen Gebaͤu- de Platz finden moͤgen. Lucifer indeſſen mit ſeinen vornehm- ſten Bedienten behalten ihre natuͤrliche ungeheure Groͤße, dagegen der gemeine Poͤbel boͤſer Geiſter nur in Geſtalt klei- ner Pygmeen erſcheinen muß. Wenn das nicht das Laͤcher- liche aufs hoͤchſte getrieben heiſt: ſo weiß ich nicht mehr, was wahrſcheinliche oder unwahrſcheinliche Erdichtungen ſeyn ſollen. Noch eine Fabel iſt indeſſen werth aus dieſem Dichter angemercket zu werden. Die Suͤnde wird aus dem Gehir- ne des Satans, als eine Minerva aus dem Haupte Jupi- ters gebohren. Satan aber zeuget von dieſer ſeiner Tochter abſcheulicher Weiſe ein Kind, nehmlich den Tod; und die- ſes raſende und ſchmutzige Ungeheuer beſchlaͤft wieder ſeine Mutter, ſo wie es der Vater mit ſeiner Tochter gemacht hatte. Aus dieſer neuen Blutſchande wird ein gantzes Schlangenneſt erzeuget, die in den Schooß ihrer Mutter kriechen, und alle ihre Eingeweide verzehren, daher ſie ent- ſproſſen ſind. Ob eine ſo ſchmutzige und wahrhafftig ab- ſcheuliche Allegorie Wahrſcheinlichkeit genug habe, will ich aber-

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/206>, abgerufen am 21.11.2024.