abermahl nicht selbst beurtheilen, sondern einem jeden seine Gedancken davon lassen. Zum wenigsten sieht man nicht, warum die Sünde mit dem Tode noch einmahl verbotener Weise zuhalten müssen. Dieses hat in der Sache selbst kei- nen Grund mehr, und scheint von dem Poeten nur zu Ver- größerung der Abscheulichkeiten ersonnen zu seyn. Eben da- durch verliehrt seine Fabel die Wahrscheinlichkeit; weil man nicht begreifen kan, warum der Tod noch die Schlangen zeu- gen müssen? Eben so wenig kan man bald hernach sehen, warum sich der Tod mit der Sünde zancket, wobey sie grau- same Gesichter und Stellungen machen, nicht anders als ob sie einander prügeln wollten. Nicht besser gehts mit dem Paradiese der Narren, wo die Mönche, Capuciner, Jn- dulgentzien, Bullen und Reliquien auf den Flügeln des Win- des herumspazieren; Petrus aber mit seinen Schlüsseln an der Himmelsthür steht. Wie konnten alle diese Dinge zu der Zeit verhanden seyn, da das Paradieß verlohren gegan- gen? Vor den Ariost würden sich solche Thorheiten besser als vor einen Milton geschicket haben.
Es ist schade, daß Voltaire in seinem neuen Heldenge- dichte, darinn er es allen vorigen in Beobachtung der Wahr- scheinlichkeit zuvorgethan, nicht gäntzlich von Fehlern frey bleiben können. Jch will hier nicht an die Fabel gedencken, da er Henrich den Vierten, seinen Held gleich im Anfange seines Gedichtes eine Reise nach Engelland thun läst, um sich den Beystand der Königin Elisabeth zuwege zu bringen. Dieses ist zwar freylich in der Historie nicht gegründet, und also nicht wircklich geschehen; allein es ist doch wahrschein- lich; weil Henrich gleichsam etliche Monate in einer solchen Stille zugebracht, daß man indessen von ihm nichts aufge- zeichnet findet. Hier stund es nun dem Poeten frey, seinem Helden, der ohnedem in Franckreich nichts versäumete, außer Landes was zu thun zu geben. Er zaubert ihn aber nicht etwa in die Canarischen Jnseln, und wieder zurück; wie Tasso es mit seinem Reinald macht: sondern er läßt ihn natürlicher Weise über den Canal zwischen Franckreich und Engelland schiffen. u. s. w.
Jch
M 2
Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
abermahl nicht ſelbſt beurtheilen, ſondern einem jeden ſeine Gedancken davon laſſen. Zum wenigſten ſieht man nicht, warum die Suͤnde mit dem Tode noch einmahl verbotener Weiſe zuhalten muͤſſen. Dieſes hat in der Sache ſelbſt kei- nen Grund mehr, und ſcheint von dem Poeten nur zu Ver- groͤßerung der Abſcheulichkeiten erſonnen zu ſeyn. Eben da- durch verliehrt ſeine Fabel die Wahrſcheinlichkeit; weil man nicht begreifen kan, warum der Tod noch die Schlangen zeu- gen muͤſſen? Eben ſo wenig kan man bald hernach ſehen, warum ſich der Tod mit der Suͤnde zancket, wobey ſie grau- ſame Geſichter und Stellungen machen, nicht anders als ob ſie einander pruͤgeln wollten. Nicht beſſer gehts mit dem Paradieſe der Narren, wo die Moͤnche, Capuciner, Jn- dulgentzien, Bullen und Reliquien auf den Fluͤgeln des Win- des herumſpazieren; Petrus aber mit ſeinen Schluͤſſeln an der Himmelsthuͤr ſteht. Wie konnten alle dieſe Dinge zu der Zeit verhanden ſeyn, da das Paradieß verlohren gegan- gen? Vor den Arioſt wuͤrden ſich ſolche Thorheiten beſſer als vor einen Milton geſchicket haben.
Es iſt ſchade, daß Voltaire in ſeinem neuen Heldenge- dichte, darinn er es allen vorigen in Beobachtung der Wahr- ſcheinlichkeit zuvorgethan, nicht gaͤntzlich von Fehlern frey bleiben koͤnnen. Jch will hier nicht an die Fabel gedencken, da er Henrich den Vierten, ſeinen Held gleich im Anfange ſeines Gedichtes eine Reiſe nach Engelland thun laͤſt, um ſich den Beyſtand der Koͤnigin Eliſabeth zuwege zu bringen. Dieſes iſt zwar freylich in der Hiſtorie nicht gegruͤndet, und alſo nicht wircklich geſchehen; allein es iſt doch wahrſchein- lich; weil Henrich gleichſam etliche Monate in einer ſolchen Stille zugebracht, daß man indeſſen von ihm nichts aufge- zeichnet findet. Hier ſtund es nun dem Poeten frey, ſeinem Helden, der ohnedem in Franckreich nichts verſaͤumete, außer Landes was zu thun zu geben. Er zaubert ihn aber nicht etwa in die Canariſchen Jnſeln, und wieder zuruͤck; wie Taſſo es mit ſeinem Reinald macht: ſondern er laͤßt ihn natuͤrlicher Weiſe uͤber den Canal zwiſchen Franckreich und Engelland ſchiffen. u. ſ. w.
Jch
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Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
abermahl nicht ſelbſt beurtheilen, ſondern einem jeden ſeine
Gedancken davon laſſen. Zum wenigſten ſieht man nicht,
warum die Suͤnde mit dem Tode noch einmahl verbotener
Weiſe zuhalten muͤſſen. Dieſes hat in der Sache ſelbſt kei-
nen Grund mehr, und ſcheint von dem Poeten nur zu Ver-
groͤßerung der Abſcheulichkeiten erſonnen zu ſeyn. Eben da-
durch verliehrt ſeine Fabel die Wahrſcheinlichkeit; weil man
nicht begreifen kan, warum der Tod noch die Schlangen zeu-
gen muͤſſen? Eben ſo wenig kan man bald hernach ſehen,
warum ſich der Tod mit der Suͤnde zancket, wobey ſie grau-
ſame Geſichter und Stellungen machen, nicht anders als ob
ſie einander pruͤgeln wollten. Nicht beſſer gehts mit dem
Paradieſe der Narren, wo die Moͤnche, Capuciner, Jn-
dulgentzien, Bullen und Reliquien auf den Fluͤgeln des Win-
des herumſpazieren; Petrus aber mit ſeinen Schluͤſſeln an
der Himmelsthuͤr ſteht. Wie konnten alle dieſe Dinge zu
der Zeit verhanden ſeyn, da das Paradieß verlohren gegan-
gen? Vor den Arioſt wuͤrden ſich ſolche Thorheiten beſſer
als vor einen Milton geſchicket haben.
Es iſt ſchade, daß Voltaire in ſeinem neuen Heldenge-
dichte, darinn er es allen vorigen in Beobachtung der Wahr-
ſcheinlichkeit zuvorgethan, nicht gaͤntzlich von Fehlern frey
bleiben koͤnnen. Jch will hier nicht an die Fabel gedencken,
da er Henrich den Vierten, ſeinen Held gleich im Anfange
ſeines Gedichtes eine Reiſe nach Engelland thun laͤſt, um ſich
den Beyſtand der Koͤnigin Eliſabeth zuwege zu bringen.
Dieſes iſt zwar freylich in der Hiſtorie nicht gegruͤndet, und
alſo nicht wircklich geſchehen; allein es iſt doch wahrſchein-
lich; weil Henrich gleichſam etliche Monate in einer ſolchen
Stille zugebracht, daß man indeſſen von ihm nichts aufge-
zeichnet findet. Hier ſtund es nun dem Poeten frey, ſeinem
Helden, der ohnedem in Franckreich nichts verſaͤumete, außer
Landes was zu thun zu geben. Er zaubert ihn aber nicht etwa
in die Canariſchen Jnſeln, und wieder zuruͤck; wie Taſſo es
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/207>, abgerufen am 16.02.2025.
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