Jch sehe schon vorher, daß viele diese beyde letztern Ca- pitel mit scheelen Augen werden angesehen haben. Es wird wenigen von unsern deutschen Poeten gefallen, daß man sich die Freyheit nimmt, die Gedichte der grösten Meister so scharf zu prüfen. Man wird sagen, es schicke sich nicht, aller Leute Geschmack nach seinem eigenen Leisten zu messen. Was mir nicht gefiele, könne deswegen doch andern gefallen, und also auch schön seyn. Und ich wäre der Mann nicht, der sich über die grösten Meister zum Richter erheben könnte. Allein ich antworte auf dieses letzte, daß ich mir meiner Schwachheit von selbst schon bewust bin. Jch habe selbst weder ein Hel- dengedicht noch ein Theatralisches Stück geschrieben; und gebe mich also vor keinen Poeten aus, der denen gleich zu schätzen, geschweige vorzuziehen wäre, die ich beurtheilet habe. Jch sage nur Anfängern in der Poesie, was ich von andern vor poetische Regeln gelernet habe, und wie man die Gedichte darnach prüfen müsse. Horatius machte es auch so:
Fungar vice cotis; acutum Reddere quae ferrum valet exsors ipsa secandi. Munus & officium nil scribens ipse docebo, Vnde parentur opes, quid alat formetque Poetam Quid deceat quid non, quo Virtus quo ferat error?
Den Freunden des willkührlichen Geschmacks aber aufs er- ste zu antworten, gebe ich eine treffliche Stelle des englischen Grafen Schafftesbury zu überlegen, die ich, weil das Buch nicht überall zu haben ist, aus dem III. Tom. seiner Characte- ristics Misc. III. C. 2. p. 165. hersetzen will. (*) "Aus dieser "Ursache, schreibt er, wollen wir nicht allein die Sache der "Criticverständigen vertheidigen; sondern auch allen den "nachläßigen und gleichgültigen Schrifftstellern, Verfassern, "Lesern, Zuhörern, Comödianten und Zuschauern einen of- "fenbaren Krieg ankündigen; die ihre Einfälle allein zu einer "Regel der Schönheiten und Annehmlichkeiten machen; und "da sie von diesem ihren Eigensinne, oder ihrer wunderlichen "Fantasie keine Red und Antwort geben können, die Critik, "oder Untersuchungs-Kunst verwerfen; wodurch sie doch al- "lein geschickt werden können, die wahre Schönheit und den "rechten Werth jedes Dinges zu entdecken.
"Nach
(*)
Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
Jch ſehe ſchon vorher, daß viele dieſe beyde letztern Ca- pitel mit ſcheelen Augen werden angeſehen haben. Es wird wenigen von unſern deutſchen Poeten gefallen, daß man ſich die Freyheit nimmt, die Gedichte der groͤſten Meiſter ſo ſcharf zu pruͤfen. Man wird ſagen, es ſchicke ſich nicht, aller Leute Geſchmack nach ſeinem eigenen Leiſten zu meſſen. Was mir nicht gefiele, koͤnne deswegen doch andern gefallen, und alſo auch ſchoͤn ſeyn. Und ich waͤre der Mann nicht, der ſich uͤber die groͤſten Meiſter zum Richter erheben koͤnnte. Allein ich antworte auf dieſes letzte, daß ich mir meiner Schwachheit von ſelbſt ſchon bewuſt bin. Jch habe ſelbſt weder ein Hel- dengedicht noch ein Theatraliſches Stuͤck geſchrieben; und gebe mich alſo vor keinen Poeten aus, der denen gleich zu ſchaͤtzen, geſchweige vorzuziehen waͤre, die ich beurtheilet habe. Jch ſage nur Anfaͤngern in der Poeſie, was ich von andern vor poetiſche Regeln gelernet habe, und wie man die Gedichte darnach pruͤfen muͤſſe. Horatius machte es auch ſo:
Fungar vice cotis; acutum Reddere quae ferrum valet exſors ipſa ſecandi. Munus & officium nil ſcribens ipſe docebo, Vnde parentur opes, quid alat formetque Poetam Quid deceat quid non, quo Virtus quo ferat error?
Den Freunden des willkuͤhrlichen Geſchmacks aber aufs er- ſte zu antworten, gebe ich eine treffliche Stelle des engliſchen Grafen Schafftesbury zu uͤberlegen, die ich, weil das Buch nicht uͤberall zu haben iſt, aus dem III. Tom. ſeiner Characte- riſtics Miſc. III. C. 2. p. 165. herſetzen will. (*) „Aus dieſer „Urſache, ſchreibt er, wollen wir nicht allein die Sache der „Criticverſtaͤndigen vertheidigen; ſondern auch allen den „nachlaͤßigen und gleichguͤltigen Schrifftſtellern, Verfaſſern, „Leſern, Zuhoͤrern, Comoͤdianten und Zuſchauern einen of- „fenbaren Krieg ankuͤndigen; die ihre Einfaͤlle allein zu einer „Regel der Schoͤnheiten und Annehmlichkeiten machen; und „da ſie von dieſem ihren Eigenſinne, oder ihrer wunderlichen „Fantaſie keine Red und Antwort geben koͤnnen, die Critik, „oder Unterſuchungs-Kunſt verwerfen; wodurch ſie doch al- „lein geſchickt werden koͤnnen, die wahre Schoͤnheit und den „rechten Werth jedes Dinges zu entdecken.
„Nach
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Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie.
Jch ſehe ſchon vorher, daß viele dieſe beyde letztern Ca-
pitel mit ſcheelen Augen werden angeſehen haben. Es wird
wenigen von unſern deutſchen Poeten gefallen, daß man ſich
die Freyheit nimmt, die Gedichte der groͤſten Meiſter ſo ſcharf
zu pruͤfen. Man wird ſagen, es ſchicke ſich nicht, aller Leute
Geſchmack nach ſeinem eigenen Leiſten zu meſſen. Was mir
nicht gefiele, koͤnne deswegen doch andern gefallen, und alſo
auch ſchoͤn ſeyn. Und ich waͤre der Mann nicht, der ſich uͤber
die groͤſten Meiſter zum Richter erheben koͤnnte. Allein ich
antworte auf dieſes letzte, daß ich mir meiner Schwachheit
von ſelbſt ſchon bewuſt bin. Jch habe ſelbſt weder ein Hel-
dengedicht noch ein Theatraliſches Stuͤck geſchrieben; und
gebe mich alſo vor keinen Poeten aus, der denen gleich zu
ſchaͤtzen, geſchweige vorzuziehen waͤre, die ich beurtheilet habe.
Jch ſage nur Anfaͤngern in der Poeſie, was ich von andern vor
poetiſche Regeln gelernet habe, und wie man die Gedichte
darnach pruͤfen muͤſſe. Horatius machte es auch ſo:
Fungar vice cotis; acutum
Reddere quae ferrum valet exſors ipſa ſecandi.
Munus & officium nil ſcribens ipſe docebo,
Vnde parentur opes, quid alat formetque Poetam
Quid deceat quid non, quo Virtus quo ferat error?
Den Freunden des willkuͤhrlichen Geſchmacks aber aufs er-
ſte zu antworten, gebe ich eine treffliche Stelle des engliſchen
Grafen Schafftesbury zu uͤberlegen, die ich, weil das Buch
nicht uͤberall zu haben iſt, aus dem III. Tom. ſeiner Characte-
riſtics Miſc. III. C. 2. p. 165. herſetzen will. (*) „Aus dieſer
„Urſache, ſchreibt er, wollen wir nicht allein die Sache der
„Criticverſtaͤndigen vertheidigen; ſondern auch allen den
„nachlaͤßigen und gleichguͤltigen Schrifftſtellern, Verfaſſern,
„Leſern, Zuhoͤrern, Comoͤdianten und Zuſchauern einen of-
„fenbaren Krieg ankuͤndigen; die ihre Einfaͤlle allein zu einer
„Regel der Schoͤnheiten und Annehmlichkeiten machen; und
„da ſie von dieſem ihren Eigenſinne, oder ihrer wunderlichen
„Fantaſie keine Red und Antwort geben koͤnnen, die Critik,
„oder Unterſuchungs-Kunſt verwerfen; wodurch ſie doch al-
„lein geſchickt werden koͤnnen, die wahre Schoͤnheit und den
„rechten Werth jedes Dinges zu entdecken.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/213>, abgerufen am 21.11.2024.
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