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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Worten.
len, Tragödien, Elegien, Schäfergedichten, ja gar vor
Gerichte und auf der Cantzel eingeführet worden.

On vid tous les Bergers dans leur Plaintes nouvelles,
Fideles a la Pointe, encor plus qu'a leurs Belles,
Chaque mot eut toujours deux visages divers;
La prose la recaut aussi-biens que les vers;
L'Avocat au Palais en herissa son stile,
Et le Docteur en chaire en sema l'Evangile.

Hierauf sagt er, die Vernunft hätte endlich die Augen aufge-
than, und sie einmahl vor allemahl aus ernsthafften Schriff-
ten verbannet, sie allenthalben vor unehrlich erkläret, und
ihnen kaum in Sinngedichten, doch mit dem Bedinge, einen
Platz vergönnet, daß sie mit den Gedancken und nicht mit
Worten spielen möchten. Darauf hätten zwar allenthalben
die Unordnungen aufgehört; doch wären bey Hofe noch Pos-
senreißer geblieben; abgeschmackte Lustigmacher, unseelige
Pickelheringe, altfränckische Verfechter grober Wortspiele.

La raison outragee enfin ouvrit les yeux,
La chassa pour jamais des discours serieux,
Et dans tous ces ecrits la declarant infame,
Par grace lui laissa l'entree en l'Epigramme.
Pourveu que sa finesse, eclatant a propos,
Roulast sur la pensee, & non pas sur les mots.
Ainsi de toutes parts les desordres cesserent,
Toutesfois a la Cours les Turlupins resterent,
Insipides Plaisans, bouffons infortunez,
D'un jeu de mot grossier partisans surannes.

Was könnte ich nicht aus des Grafen Schafftsbury, und
aus Richard Steelens Schrifften vor Stellen anführen,
darinn sie über den verderbten Geschmack ihrer Landes-Leute
in diesem Stücke die hefftigsten Klagen führen. Allein es ist
genug gesagt, wenn ich nur noch die Probe eines guten Ge-
danckens, die von einigen vorgeschlagen wird, werde ange-
merckt haben. Man sagt: alles, was sich in eine fremde
Sprache übersetzen läst, und gleichwohl noch die vorige
Schönheit behält, das ist ein gründlicher und richtiger Ge-
dancke. Was aber alsdann sich selbst nicht mehr ähnlich

sieht,
O 2

Von poetiſchen Worten.
len, Tragoͤdien, Elegien, Schaͤfergedichten, ja gar vor
Gerichte und auf der Cantzel eingefuͤhret worden.

On vid tous les Bergers dans leur Plaintes nouvelles,
Fideles à la Pointe, encor plus qu’à leurs Belles,
Chaque mot eut toujours deux viſages divers;
La proſe la reçût auſſi-biens que les vers;
L’Avocat au Palais en heriſſa ſon ſtile,
Et le Docteur en chaire en ſema l’Evangile.

Hierauf ſagt er, die Vernunft haͤtte endlich die Augen aufge-
than, und ſie einmahl vor allemahl aus ernſthafften Schriff-
ten verbannet, ſie allenthalben vor unehrlich erklaͤret, und
ihnen kaum in Sinngedichten, doch mit dem Bedinge, einen
Platz vergoͤnnet, daß ſie mit den Gedancken und nicht mit
Worten ſpielen moͤchten. Darauf haͤtten zwar allenthalben
die Unordnungen aufgehoͤrt; doch waͤren bey Hofe noch Poſ-
ſenreißer geblieben; abgeſchmackte Luſtigmacher, unſeelige
Pickelheringe, altfraͤnckiſche Verfechter grober Wortſpiele.

La raiſon outragée enfin ouvrit les yeux,
La chaſſa pour jamais des diſcours ſerieux,
Et dans tous ces écrits la declarant infame,
Par grace lui laiſſa l’entrée en l’Epigramme.
Pourveu que ſa fineſſe, éclatant à propos,
Roulaſt ſur la penſée, & non pas ſur les mots.
Ainſi de toutes parts les deſordres ceſſerent,
Toutesfois à la Cours les Turlupins reſterent,
Inſipides Plaiſans, bouffons infortunéz,
D’un jeu de mot groſſier partiſans ſurannes.

Was koͤnnte ich nicht aus des Grafen Schafftsbury, und
aus Richard Steelens Schrifften vor Stellen anfuͤhren,
darinn ſie uͤber den verderbten Geſchmack ihrer Landes-Leute
in dieſem Stuͤcke die hefftigſten Klagen fuͤhren. Allein es iſt
genug geſagt, wenn ich nur noch die Probe eines guten Ge-
danckens, die von einigen vorgeſchlagen wird, werde ange-
merckt haben. Man ſagt: alles, was ſich in eine fremde
Sprache uͤberſetzen laͤſt, und gleichwohl noch die vorige
Schoͤnheit behaͤlt, das iſt ein gruͤndlicher und richtiger Ge-
dancke. Was aber alsdann ſich ſelbſt nicht mehr aͤhnlich

ſieht,
O 2
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[211/0239] Von poetiſchen Worten. len, Tragoͤdien, Elegien, Schaͤfergedichten, ja gar vor Gerichte und auf der Cantzel eingefuͤhret worden. On vid tous les Bergers dans leur Plaintes nouvelles, Fideles à la Pointe, encor plus qu’à leurs Belles, Chaque mot eut toujours deux viſages divers; La proſe la reçût auſſi-biens que les vers; L’Avocat au Palais en heriſſa ſon ſtile, Et le Docteur en chaire en ſema l’Evangile. Hierauf ſagt er, die Vernunft haͤtte endlich die Augen aufge- than, und ſie einmahl vor allemahl aus ernſthafften Schriff- ten verbannet, ſie allenthalben vor unehrlich erklaͤret, und ihnen kaum in Sinngedichten, doch mit dem Bedinge, einen Platz vergoͤnnet, daß ſie mit den Gedancken und nicht mit Worten ſpielen moͤchten. Darauf haͤtten zwar allenthalben die Unordnungen aufgehoͤrt; doch waͤren bey Hofe noch Poſ- ſenreißer geblieben; abgeſchmackte Luſtigmacher, unſeelige Pickelheringe, altfraͤnckiſche Verfechter grober Wortſpiele. La raiſon outragée enfin ouvrit les yeux, La chaſſa pour jamais des diſcours ſerieux, Et dans tous ces écrits la declarant infame, Par grace lui laiſſa l’entrée en l’Epigramme. Pourveu que ſa fineſſe, éclatant à propos, Roulaſt ſur la penſée, & non pas ſur les mots. Ainſi de toutes parts les deſordres ceſſerent, Toutesfois à la Cours les Turlupins reſterent, Inſipides Plaiſans, bouffons infortunéz, D’un jeu de mot groſſier partiſans ſurannes. Was koͤnnte ich nicht aus des Grafen Schafftsbury, und aus Richard Steelens Schrifften vor Stellen anfuͤhren, darinn ſie uͤber den verderbten Geſchmack ihrer Landes-Leute in dieſem Stuͤcke die hefftigſten Klagen fuͤhren. Allein es iſt genug geſagt, wenn ich nur noch die Probe eines guten Ge- danckens, die von einigen vorgeſchlagen wird, werde ange- merckt haben. Man ſagt: alles, was ſich in eine fremde Sprache uͤberſetzen laͤſt, und gleichwohl noch die vorige Schoͤnheit behaͤlt, das iſt ein gruͤndlicher und richtiger Ge- dancke. Was aber alsdann ſich ſelbſt nicht mehr aͤhnlich ſieht, O 2

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/239>, abgerufen am 21.11.2024.