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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Perioden und ihren Zierrathen.
weiß man selbst nicht mehr, was man gelesen hat: So gar ist
man durch die Verwirrung unzehlicher Gedancken und Aus-
drückungen überhäufet worden.

Wiewohl nun dergestalt die Deutlichkeit eine Haupt-
Tugend poetischer Perioden ist; diese aber nicht leicht ohne
eine beliebte Kürtze erhalten werden kan: so will man da-
durch doch nicht alle weitläuftige Sätze in Verßen verwor-
fen haben. Es giebt freylich zuweilen lange Perioden, die
eine Menge kleiner Abtheilungen haben. Weil sie aber alle
einander ähnlich sind, und an und vor sich selbst verstanden
werden können: so entsteht keine Dunckelheit daraus in der
gantzen Rede. Z. E. wenn Opitz die Eigenschafften eines
guten Poeten erzehlet, so wird ein Periodus von 7 Zeilen
daraus, der aber sehr deutlich und verständlich ist.

Es ist hier nicht genug die arme Rede zwingen,
Die Sinnen über Hals und Kopf in Reime bringen,
Der Wörter Hencker seyn. Wer nicht den Himmel fühlt,
Nicht scharf und geistig ist, nicht auf die Alten zielt,
Nicht ihre Schrifften kennt, der Griechen und Lateiner,
Als seine Finger selbst, und schaut, daß ihm kaum einer
Von allen aussen bleibt; wer die gemeine Bahn
Nicht zu verlassen weiß, ist zwar ein guter Mann,
Doch nicht gleich ein Poet.

Man hat also sonderlich darauf zu sehen, daß in dergleichen
langen Sätzen die Theile nicht nur an sich selbst deutlich,
sondern auch unter einander ähnlich seyn mögen. Denn
diese Aehnlichkeit macht, daß man die vorigen Stücke bey
den folgenden nicht aus dem Sinne verliert, und bey dem
letzten nicht anders denckt, als ob nur eine einzige Bedin-
gung, Ursache, Vergleichung oder Folgerung verhanden
gewesen.

Die andre gute Eigenschafft eines Periodi ist, wenn
darinnen die natürliche Wortfügung unsrer Muttersprache
eben so wohl als in ungebundner Rede beobachtet wird.
Diese Regel ist seit Opitzens Zeiten bey unsrer Nation vor
bekannt angenommen worden, und es haben sie so gar die-
jenigen nicht verworfen, die doch in ihren Schrifften viel-
fältig darwieder verstoßen. Sie entschuldigen sich allen-

falls

Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen.
weiß man ſelbſt nicht mehr, was man geleſen hat: So gar iſt
man durch die Verwirrung unzehlicher Gedancken und Aus-
druͤckungen uͤberhaͤufet worden.

Wiewohl nun dergeſtalt die Deutlichkeit eine Haupt-
Tugend poetiſcher Perioden iſt; dieſe aber nicht leicht ohne
eine beliebte Kuͤrtze erhalten werden kan: ſo will man da-
durch doch nicht alle weitlaͤuftige Saͤtze in Verßen verwor-
fen haben. Es giebt freylich zuweilen lange Perioden, die
eine Menge kleiner Abtheilungen haben. Weil ſie aber alle
einander aͤhnlich ſind, und an und vor ſich ſelbſt verſtanden
werden koͤnnen: ſo entſteht keine Dunckelheit daraus in der
gantzen Rede. Z. E. wenn Opitz die Eigenſchafften eines
guten Poeten erzehlet, ſo wird ein Periodus von 7 Zeilen
daraus, der aber ſehr deutlich und verſtaͤndlich iſt.

Es iſt hier nicht genug die arme Rede zwingen,
Die Sinnen uͤber Hals und Kopf in Reime bringen,
Der Woͤrter Hencker ſeyn. Wer nicht den Himmel fuͤhlt,
Nicht ſcharf und geiſtig iſt, nicht auf die Alten zielt,
Nicht ihre Schrifften kennt, der Griechen und Lateiner,
Als ſeine Finger ſelbſt, und ſchaut, daß ihm kaum einer
Von allen auſſen bleibt; wer die gemeine Bahn
Nicht zu verlaſſen weiß, iſt zwar ein guter Mann,
Doch nicht gleich ein Poet.

Man hat alſo ſonderlich darauf zu ſehen, daß in dergleichen
langen Saͤtzen die Theile nicht nur an ſich ſelbſt deutlich,
ſondern auch unter einander aͤhnlich ſeyn moͤgen. Denn
dieſe Aehnlichkeit macht, daß man die vorigen Stuͤcke bey
den folgenden nicht aus dem Sinne verliert, und bey dem
letzten nicht anders denckt, als ob nur eine einzige Bedin-
gung, Urſache, Vergleichung oder Folgerung verhanden
geweſen.

Die andre gute Eigenſchafft eines Periodi iſt, wenn
darinnen die natuͤrliche Wortfuͤgung unſrer Mutterſprache
eben ſo wohl als in ungebundner Rede beobachtet wird.
Dieſe Regel iſt ſeit Opitzens Zeiten bey unſrer Nation vor
bekannt angenommen worden, und es haben ſie ſo gar die-
jenigen nicht verworfen, die doch in ihren Schrifften viel-
faͤltig darwieder verſtoßen. Sie entſchuldigen ſich allen-

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[239/0267] Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen. weiß man ſelbſt nicht mehr, was man geleſen hat: So gar iſt man durch die Verwirrung unzehlicher Gedancken und Aus- druͤckungen uͤberhaͤufet worden. Wiewohl nun dergeſtalt die Deutlichkeit eine Haupt- Tugend poetiſcher Perioden iſt; dieſe aber nicht leicht ohne eine beliebte Kuͤrtze erhalten werden kan: ſo will man da- durch doch nicht alle weitlaͤuftige Saͤtze in Verßen verwor- fen haben. Es giebt freylich zuweilen lange Perioden, die eine Menge kleiner Abtheilungen haben. Weil ſie aber alle einander aͤhnlich ſind, und an und vor ſich ſelbſt verſtanden werden koͤnnen: ſo entſteht keine Dunckelheit daraus in der gantzen Rede. Z. E. wenn Opitz die Eigenſchafften eines guten Poeten erzehlet, ſo wird ein Periodus von 7 Zeilen daraus, der aber ſehr deutlich und verſtaͤndlich iſt. Es iſt hier nicht genug die arme Rede zwingen, Die Sinnen uͤber Hals und Kopf in Reime bringen, Der Woͤrter Hencker ſeyn. Wer nicht den Himmel fuͤhlt, Nicht ſcharf und geiſtig iſt, nicht auf die Alten zielt, Nicht ihre Schrifften kennt, der Griechen und Lateiner, Als ſeine Finger ſelbſt, und ſchaut, daß ihm kaum einer Von allen auſſen bleibt; wer die gemeine Bahn Nicht zu verlaſſen weiß, iſt zwar ein guter Mann, Doch nicht gleich ein Poet. Man hat alſo ſonderlich darauf zu ſehen, daß in dergleichen langen Saͤtzen die Theile nicht nur an ſich ſelbſt deutlich, ſondern auch unter einander aͤhnlich ſeyn moͤgen. Denn dieſe Aehnlichkeit macht, daß man die vorigen Stuͤcke bey den folgenden nicht aus dem Sinne verliert, und bey dem letzten nicht anders denckt, als ob nur eine einzige Bedin- gung, Urſache, Vergleichung oder Folgerung verhanden geweſen. Die andre gute Eigenſchafft eines Periodi iſt, wenn darinnen die natuͤrliche Wortfuͤgung unſrer Mutterſprache eben ſo wohl als in ungebundner Rede beobachtet wird. Dieſe Regel iſt ſeit Opitzens Zeiten bey unſrer Nation vor bekannt angenommen worden, und es haben ſie ſo gar die- jenigen nicht verworfen, die doch in ihren Schrifften viel- faͤltig darwieder verſtoßen. Sie entſchuldigen ſich allen- falls

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/267>, abgerufen am 24.11.2024.