Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite
Das IX. Capitel
Bracht deren gar ein grosse Zahl
Für die Kriegs-Obersten zumahl,
Von Golt und Silber auch ein Kron
Apollinis des GOttes fron
Ein güldin Scepter in der Hand
Ersucht die Griechen mit Verstand
Fürnehmlich Agamemnonem
Und Menelaum gantz beqvem
Die beyde König hochgeborn
Des Atrei Söhn auserkorn
Als hochverständig und großmütig
Fieng an und sprach mit Worten gütig
Jhr beyde Fürsten hochgedacht
Und auch der Griechen grosse Macht etc.

Jch müste noch gantze Seiten ausschreiben, wenn ich hier
ein Ende finden wollte: so gar hängt alles an einander, daß
man nirgends stille halten oder aufhören kan. Es hat aber
auch unter neuern Poeten Leute gegeben, die nicht anders
geschrieben haben, als ob der Periodus in Versen ein ver-
botenes Kunststück wäre. Sonderlich in den ungemischten
Alexandrinischen Versen halten es einige nicht nur vor er-
laubt, sondern wohl gar vor eine Schönheit, wenn sie alles
an einander hengen, und wohl dreyßig ja vierzig lange Zei-
len wegschreiben, darinne man nirgend stille stehen kan, wo
man nicht durch das Athemholen den Zusammenhang der
Worte und Gedancken unterbrechen will. Eine solche
Schreibart nun ist in ungebundener Rede schon verwerflich,
viel weniger wird sie sich vor einen guten Poeten schicken, der
noch körnigter, nachdrücklicher und kräftiger schreiben soll
als ein Redner. Die grosse Weitläuftigkeit ist ein Zeichen
schlecht verdaueter Gedancken, und übel gefaßter Ausdrü-
ckungen. Sie macht die deutlichste Sache dunckel, und
den besten Leser matt und müde. Seine Gedancken wer-
den mit gar zu vielen Dingen überhäuft, und wenn er hofft,
daß ihm die folgende Zeile den völligen Sinn des Satzes
entdecken werde, so wird er von neuem aus einem Laby-
rinthe in den andern gestürtzet, daraus er nicht eher, als
nach unzehligen Umschweifen den Ausgang finden kan. Wenn
man denn endlich an einen Ruhe-Punct gekommen ist, so

weiß
Das IX. Capitel
Bracht deren gar ein groſſe Zahl
Fuͤr die Kriegs-Oberſten zumahl,
Von Golt und Silber auch ein Kron
Apollinis des GOttes fron
Ein guͤldin Scepter in der Hand
Erſucht die Griechen mit Verſtand
Fuͤrnehmlich Agamemnonem
Und Menelaum gantz beqvem
Die beyde Koͤnig hochgeborn
Des Atrei Soͤhn auserkorn
Als hochverſtaͤndig und großmuͤtig
Fieng an und ſprach mit Worten guͤtig
Jhr beyde Fuͤrſten hochgedacht
Und auch der Griechen groſſe Macht ꝛc.

Jch muͤſte noch gantze Seiten ausſchreiben, wenn ich hier
ein Ende finden wollte: ſo gar haͤngt alles an einander, daß
man nirgends ſtille halten oder aufhoͤren kan. Es hat aber
auch unter neuern Poeten Leute gegeben, die nicht anders
geſchrieben haben, als ob der Periodus in Verſen ein ver-
botenes Kunſtſtuͤck waͤre. Sonderlich in den ungemiſchten
Alexandriniſchen Verſen halten es einige nicht nur vor er-
laubt, ſondern wohl gar vor eine Schoͤnheit, wenn ſie alles
an einander hengen, und wohl dreyßig ja vierzig lange Zei-
len wegſchreiben, darinne man nirgend ſtille ſtehen kan, wo
man nicht durch das Athemholen den Zuſammenhang der
Worte und Gedancken unterbrechen will. Eine ſolche
Schreibart nun iſt in ungebundener Rede ſchon verwerflich,
viel weniger wird ſie ſich vor einen guten Poeten ſchicken, der
noch koͤrnigter, nachdruͤcklicher und kraͤftiger ſchreiben ſoll
als ein Redner. Die groſſe Weitlaͤuftigkeit iſt ein Zeichen
ſchlecht verdaueter Gedancken, und uͤbel gefaßter Ausdruͤ-
ckungen. Sie macht die deutlichſte Sache dunckel, und
den beſten Leſer matt und muͤde. Seine Gedancken wer-
den mit gar zu vielen Dingen uͤberhaͤuft, und wenn er hofft,
daß ihm die folgende Zeile den voͤlligen Sinn des Satzes
entdecken werde, ſo wird er von neuem aus einem Laby-
rinthe in den andern geſtuͤrtzet, daraus er nicht eher, als
nach unzehligen Umſchweifen den Ausgang finden kan. Wenn
man denn endlich an einen Ruhe-Punct gekommen iſt, ſo

weiß
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <cit>
            <quote>
              <lg type="poem">
                <pb facs="#f0266" n="238"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">IX.</hi> Capitel</hi> </fw><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Bracht deren gar ein gro&#x017F;&#x017F;e Zahl</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Fu&#x0364;r die Kriegs-Ober&#x017F;ten zumahl,</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Von Golt und Silber auch ein Kron</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Apollinis des GOttes fron</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Ein gu&#x0364;ldin Scepter in der Hand</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Er&#x017F;ucht die Griechen mit Ver&#x017F;tand</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Fu&#x0364;rnehmlich Agamemnonem</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Und Menelaum gantz beqvem</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Die beyde Ko&#x0364;nig hochgeborn</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Des Atrei So&#x0364;hn auserkorn</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Als hochver&#x017F;ta&#x0364;ndig und großmu&#x0364;tig</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Fieng an und &#x017F;prach mit Worten gu&#x0364;tig</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Jhr beyde Fu&#x0364;r&#x017F;ten hochgedacht</hi> </l><lb/>
                <l> <hi rendition="#aq">Und auch der Griechen gro&#x017F;&#x017F;e Macht &#xA75B;c.</hi> </l>
              </lg>
            </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Jch mu&#x0364;&#x017F;te noch gantze Seiten aus&#x017F;chreiben, wenn ich hier<lb/>
ein Ende finden wollte: &#x017F;o gar ha&#x0364;ngt alles an einander, daß<lb/>
man nirgends &#x017F;tille halten oder aufho&#x0364;ren kan. Es hat aber<lb/>
auch unter neuern Poeten Leute gegeben, die nicht anders<lb/>
ge&#x017F;chrieben haben, als ob der Periodus in Ver&#x017F;en ein ver-<lb/>
botenes Kun&#x017F;t&#x017F;tu&#x0364;ck wa&#x0364;re. Sonderlich in den ungemi&#x017F;chten<lb/>
Alexandrini&#x017F;chen Ver&#x017F;en halten es einige nicht nur vor er-<lb/>
laubt, &#x017F;ondern wohl gar vor eine Scho&#x0364;nheit, wenn &#x017F;ie alles<lb/>
an einander hengen, und wohl dreyßig ja vierzig lange Zei-<lb/>
len weg&#x017F;chreiben, darinne man nirgend &#x017F;tille &#x017F;tehen kan, wo<lb/>
man nicht durch das Athemholen den Zu&#x017F;ammenhang der<lb/>
Worte und Gedancken unterbrechen will. Eine &#x017F;olche<lb/>
Schreibart nun i&#x017F;t in ungebundener Rede &#x017F;chon verwerflich,<lb/>
viel weniger wird &#x017F;ie &#x017F;ich vor einen guten Poeten &#x017F;chicken, der<lb/>
noch ko&#x0364;rnigter, nachdru&#x0364;cklicher und kra&#x0364;ftiger &#x017F;chreiben &#x017F;oll<lb/>
als ein Redner. Die gro&#x017F;&#x017F;e Weitla&#x0364;uftigkeit i&#x017F;t ein Zeichen<lb/>
&#x017F;chlecht verdaueter Gedancken, und u&#x0364;bel gefaßter Ausdru&#x0364;-<lb/>
ckungen. Sie macht die deutlich&#x017F;te Sache dunckel, und<lb/>
den be&#x017F;ten Le&#x017F;er matt und mu&#x0364;de. Seine Gedancken wer-<lb/>
den mit gar zu vielen Dingen u&#x0364;berha&#x0364;uft, und wenn er hofft,<lb/>
daß ihm die folgende Zeile den vo&#x0364;lligen Sinn des Satzes<lb/>
entdecken werde, &#x017F;o wird er von neuem aus einem Laby-<lb/>
rinthe in den andern ge&#x017F;tu&#x0364;rtzet, daraus er nicht eher, als<lb/>
nach unzehligen Um&#x017F;chweifen den Ausgang finden kan. Wenn<lb/>
man denn endlich an einen Ruhe-Punct gekommen i&#x017F;t, &#x017F;o<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">weiß</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0266] Das IX. Capitel Bracht deren gar ein groſſe Zahl Fuͤr die Kriegs-Oberſten zumahl, Von Golt und Silber auch ein Kron Apollinis des GOttes fron Ein guͤldin Scepter in der Hand Erſucht die Griechen mit Verſtand Fuͤrnehmlich Agamemnonem Und Menelaum gantz beqvem Die beyde Koͤnig hochgeborn Des Atrei Soͤhn auserkorn Als hochverſtaͤndig und großmuͤtig Fieng an und ſprach mit Worten guͤtig Jhr beyde Fuͤrſten hochgedacht Und auch der Griechen groſſe Macht ꝛc. Jch muͤſte noch gantze Seiten ausſchreiben, wenn ich hier ein Ende finden wollte: ſo gar haͤngt alles an einander, daß man nirgends ſtille halten oder aufhoͤren kan. Es hat aber auch unter neuern Poeten Leute gegeben, die nicht anders geſchrieben haben, als ob der Periodus in Verſen ein ver- botenes Kunſtſtuͤck waͤre. Sonderlich in den ungemiſchten Alexandriniſchen Verſen halten es einige nicht nur vor er- laubt, ſondern wohl gar vor eine Schoͤnheit, wenn ſie alles an einander hengen, und wohl dreyßig ja vierzig lange Zei- len wegſchreiben, darinne man nirgend ſtille ſtehen kan, wo man nicht durch das Athemholen den Zuſammenhang der Worte und Gedancken unterbrechen will. Eine ſolche Schreibart nun iſt in ungebundener Rede ſchon verwerflich, viel weniger wird ſie ſich vor einen guten Poeten ſchicken, der noch koͤrnigter, nachdruͤcklicher und kraͤftiger ſchreiben ſoll als ein Redner. Die groſſe Weitlaͤuftigkeit iſt ein Zeichen ſchlecht verdaueter Gedancken, und uͤbel gefaßter Ausdruͤ- ckungen. Sie macht die deutlichſte Sache dunckel, und den beſten Leſer matt und muͤde. Seine Gedancken wer- den mit gar zu vielen Dingen uͤberhaͤuft, und wenn er hofft, daß ihm die folgende Zeile den voͤlligen Sinn des Satzes entdecken werde, ſo wird er von neuem aus einem Laby- rinthe in den andern geſtuͤrtzet, daraus er nicht eher, als nach unzehligen Umſchweifen den Ausgang finden kan. Wenn man denn endlich an einen Ruhe-Punct gekommen iſt, ſo weiß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/266
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/266>, abgerufen am 24.11.2024.