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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von poetischen Perioden und ihren Zierrathen.
wohl verstanden werden könnte. Sie massen also alle ihre
Zeilen ab, brachten das Sylbenmaaß darinnen auf, und
schlossen, so viel möglich war, ieden Gedancken in einen, zwey
oder drey Verse: so viel man nehmlich in einem Athem be-
quem aussprechen konnte. Daher entstunden nun die poe-
tischen Perioden. Ein Exempel macht die Sache deutlich.
Simon Dach schreibt auf eines Liefländischen Hertzogs mit
einer Brandenb. Prinzeßin Beylager 1643.

Jch bin so fremde nicht in meinem Vaterlande
Dem, der nur etwas hält von Tugend und Verstande.
Mein Churfürst, sagt man mir durch gründlichen Bericht,
Erkennt ob ich ein Lied geschrieben oder nicht?
So kundig bin ich ihm.

Hier sieht ein jeder, daß in diesen fünftehalb Zeilen der Ver-
stand sich dreymahl schließt. Erst machen zwey und zwey
Zeilen einen völligen Periodum aus, hernach ist eine halbe
Zeile ein gantzer Satz; der sich zwar auf das vorhergehen-
de bezieht; aber doch vor sich verstanden werden kan. Noch
eins, aus demselben Gedichte.

Mir dringet längst zu Ohren,
Ja auch ins Hertze selbst der süssen Sänger Schall.
Jch höre längst von fern die Heerpauck und den Hall
Der zwölf Trompeten gehn. Für Freuden seh ich springen
Die Bergstadt Ottocars, und alles wiederklingen.
Der reiche Pregel reckt sein nasses Haupt empor,
Horcht, was da sey, und läuft geschwinder als zuvor,
Dem frischen Hafe zu.

Hier sieht man wieder, daß der Verstand dieser acht Zeilen
sich viermahl geschlossen, nehmlich da, wo die Puncte stehen.
Und folglich besteht dieses Stücke aus vier Perioden. Will
man dagegen sehen, wie ein Vers aussieht, darinn keine
Perioden sind, so darf ich nur ein Stück aus einem alten
Meistersänger anführen. Z. E. der alte Ubersetzer Homeri
erzehlt im Anfange des ersten Buches, wie der Priester
Chryses seine Tochter wiedergefordert habe.

Dann dieser Priester Lobesam
Bald für die Schiff der Griechen kam,
Und wollt sein liebe Tochter haben
Dieselb erledigen mit Gaben,
Bracht

Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen.
wohl verſtanden werden koͤnnte. Sie maſſen alſo alle ihre
Zeilen ab, brachten das Sylbenmaaß darinnen auf, und
ſchloſſen, ſo viel moͤglich war, ieden Gedancken in einen, zwey
oder drey Verſe: ſo viel man nehmlich in einem Athem be-
quem ausſprechen konnte. Daher entſtunden nun die poe-
tiſchen Perioden. Ein Exempel macht die Sache deutlich.
Simon Dach ſchreibt auf eines Lieflaͤndiſchen Hertzogs mit
einer Brandenb. Prinzeßin Beylager 1643.

Jch bin ſo fremde nicht in meinem Vaterlande
Dem, der nur etwas haͤlt von Tugend und Verſtande.
Mein Churfuͤrſt, ſagt man mir durch gruͤndlichen Bericht,
Erkennt ob ich ein Lied geſchrieben oder nicht?
So kundig bin ich ihm.

Hier ſieht ein jeder, daß in dieſen fuͤnftehalb Zeilen der Ver-
ſtand ſich dreymahl ſchließt. Erſt machen zwey und zwey
Zeilen einen voͤlligen Periodum aus, hernach iſt eine halbe
Zeile ein gantzer Satz; der ſich zwar auf das vorhergehen-
de bezieht; aber doch vor ſich verſtanden werden kan. Noch
eins, aus demſelben Gedichte.

Mir dringet laͤngſt zu Ohren,
Ja auch ins Hertze ſelbſt der ſuͤſſen Saͤnger Schall.
Jch hoͤre laͤngſt von fern die Heerpauck und den Hall
Der zwoͤlf Trompeten gehn. Fuͤr Freuden ſeh ich ſpringen
Die Bergſtadt Ottocars, und alles wiederklingen.
Der reiche Pregel reckt ſein naſſes Haupt empor,
Horcht, was da ſey, und laͤuft geſchwinder als zuvor,
Dem friſchen Hafe zu.

Hier ſieht man wieder, daß der Verſtand dieſer acht Zeilen
ſich viermahl geſchloſſen, nehmlich da, wo die Puncte ſtehen.
Und folglich beſteht dieſes Stuͤcke aus vier Perioden. Will
man dagegen ſehen, wie ein Vers ausſieht, darinn keine
Perioden ſind, ſo darf ich nur ein Stuͤck aus einem alten
Meiſterſaͤnger anfuͤhren. Z. E. der alte Uberſetzer Homeri
erzehlt im Anfange des erſten Buches, wie der Prieſter
Chryſes ſeine Tochter wiedergefordert habe.

Dann dieſer Prieſter Lobeſam
Bald fuͤr die Schiff der Griechen kam,
Und wollt ſein liebe Tochter haben
Dieſelb erledigen mit Gaben,
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[237/0265] Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen. wohl verſtanden werden koͤnnte. Sie maſſen alſo alle ihre Zeilen ab, brachten das Sylbenmaaß darinnen auf, und ſchloſſen, ſo viel moͤglich war, ieden Gedancken in einen, zwey oder drey Verſe: ſo viel man nehmlich in einem Athem be- quem ausſprechen konnte. Daher entſtunden nun die poe- tiſchen Perioden. Ein Exempel macht die Sache deutlich. Simon Dach ſchreibt auf eines Lieflaͤndiſchen Hertzogs mit einer Brandenb. Prinzeßin Beylager 1643. Jch bin ſo fremde nicht in meinem Vaterlande Dem, der nur etwas haͤlt von Tugend und Verſtande. Mein Churfuͤrſt, ſagt man mir durch gruͤndlichen Bericht, Erkennt ob ich ein Lied geſchrieben oder nicht? So kundig bin ich ihm. Hier ſieht ein jeder, daß in dieſen fuͤnftehalb Zeilen der Ver- ſtand ſich dreymahl ſchließt. Erſt machen zwey und zwey Zeilen einen voͤlligen Periodum aus, hernach iſt eine halbe Zeile ein gantzer Satz; der ſich zwar auf das vorhergehen- de bezieht; aber doch vor ſich verſtanden werden kan. Noch eins, aus demſelben Gedichte. Mir dringet laͤngſt zu Ohren, Ja auch ins Hertze ſelbſt der ſuͤſſen Saͤnger Schall. Jch hoͤre laͤngſt von fern die Heerpauck und den Hall Der zwoͤlf Trompeten gehn. Fuͤr Freuden ſeh ich ſpringen Die Bergſtadt Ottocars, und alles wiederklingen. Der reiche Pregel reckt ſein naſſes Haupt empor, Horcht, was da ſey, und laͤuft geſchwinder als zuvor, Dem friſchen Hafe zu. Hier ſieht man wieder, daß der Verſtand dieſer acht Zeilen ſich viermahl geſchloſſen, nehmlich da, wo die Puncte ſtehen. Und folglich beſteht dieſes Stuͤcke aus vier Perioden. Will man dagegen ſehen, wie ein Vers ausſieht, darinn keine Perioden ſind, ſo darf ich nur ein Stuͤck aus einem alten Meiſterſaͤnger anfuͤhren. Z. E. der alte Uberſetzer Homeri erzehlt im Anfange des erſten Buches, wie der Prieſter Chryſes ſeine Tochter wiedergefordert habe. Dann dieſer Prieſter Lobeſam Bald fuͤr die Schiff der Griechen kam, Und wollt ſein liebe Tochter haben Dieſelb erledigen mit Gaben, Bracht

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/265>, abgerufen am 24.11.2024.