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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das IX. Capitel
gebracht, als die prosaische. Die Poeten, Museus, Or-
pheus und Linus haben lange vor dem Pherecydes gelebt,
welcher zu allererst auf die Gedancken gekommen seyn soll,
daß man auch ohne ein gewisses Sylbenmaaß schreiben kön-
ne. Und da man auch in diesen Alten, sonderlich in Home-
ro eine periodische Schreibart antrifft: So weiß man her-
gegen unter den viel neuern prosaischen Scribenten den J-
socrates zu nennen, der zu allererst in ungebundner Rede
Perioden zu machen angefangen. Cicero giebt uns in sei-
nem dritten Buche vom Redner Nachricht davon. Die
Stelle verdient, daß ich sie anführe: "Die Alten hielten
"davor, man müsse in der ungebundenen Rede auch Ver-
"se machen, das ist, ein gewisses wohlklingendes Sylben-
"maaß beobachten. Denn sie verlangten, daß man nicht
"so wohl durch gewisse Zeichen der Abtheilung, als viel-
"mehr in der Rede selbst, durch die Worte und Sätze, in
"gewissen Stellen einen Schluß machen solle, nicht zwar
"unserer Müdigkeit, sondern dem Athemholen zu statten zu
"kommen. Und das soll vornehmlich Jsocrates aufgebracht
"haben, damit er die ungeschickte Schreibart der Alten, der
"Anmuth und des Gehöres wegen, zu einem Wohlklange
"bringen möchte. Denn vermittelst dieser zwey Stücke
"haben die Musikverständigen, welche vorzeiten mit den
"Poeten einerley waren, den Vers und Gesang zur Beln-
"stigung ausgekünstelt, damit sie so wohl durch das Syl-
"benmaaß als durch die Stimme belustigen, und dem Eckel
"der Ohren zuvor kommen möchten. Diese beyde Stücke
"nun, ich meyne den Wechsel der Stimme, und die Abthei-
"lung der Rede in geschlossene Sätze, haben sie, so viel es
"sich thun lassen, aus der Poesie auch in die Beredsamkeit
"einzuführen vor rathsam gehalten.

Wir sehen aus dieser Stelle das innere Wesen der Pe-
rioden, und begreifen zugleich, wie die ersten Dichter auf
diese Erfindung gekommen. Sie suchten das Ohr zu ver-
gnügen, und den Leuten beym Anhören ihrer Gedichte kei-
nen Uberdruß zu erwecken. Dahin gehörte nun eine wohlklin-
gende Rede, die in einem Athem ausgesprochen, und doch

wohl

Das IX. Capitel
gebracht, als die proſaiſche. Die Poeten, Muſeus, Or-
pheus und Linus haben lange vor dem Pherecydes gelebt,
welcher zu allererſt auf die Gedancken gekommen ſeyn ſoll,
daß man auch ohne ein gewiſſes Sylbenmaaß ſchreiben koͤn-
ne. Und da man auch in dieſen Alten, ſonderlich in Home-
ro eine periodiſche Schreibart antrifft: So weiß man her-
gegen unter den viel neuern proſaiſchen Scribenten den J-
ſocrates zu nennen, der zu allererſt in ungebundner Rede
Perioden zu machen angefangen. Cicero giebt uns in ſei-
nem dritten Buche vom Redner Nachricht davon. Die
Stelle verdient, daß ich ſie anfuͤhre: „Die Alten hielten
„davor, man muͤſſe in der ungebundenen Rede auch Ver-
„ſe machen, das iſt, ein gewiſſes wohlklingendes Sylben-
„maaß beobachten. Denn ſie verlangten, daß man nicht
„ſo wohl durch gewiſſe Zeichen der Abtheilung, als viel-
„mehr in der Rede ſelbſt, durch die Worte und Saͤtze, in
„gewiſſen Stellen einen Schluß machen ſolle, nicht zwar
„unſerer Muͤdigkeit, ſondern dem Athemholen zu ſtatten zu
„kommen. Und das ſoll vornehmlich Jſocrates aufgebracht
„haben, damit er die ungeſchickte Schreibart der Alten, der
„Anmuth und des Gehoͤres wegen, zu einem Wohlklange
„bringen moͤchte. Denn vermittelſt dieſer zwey Stuͤcke
„haben die Muſikverſtaͤndigen, welche vorzeiten mit den
„Poeten einerley waren, den Vers und Geſang zur Beln-
„ſtigung ausgekuͤnſtelt, damit ſie ſo wohl durch das Syl-
„benmaaß als durch die Stimme beluſtigen, und dem Eckel
„der Ohren zuvor kommen moͤchten. Dieſe beyde Stuͤcke
„nun, ich meyne den Wechſel der Stimme, und die Abthei-
„lung der Rede in geſchloſſene Saͤtze, haben ſie, ſo viel es
„ſich thun laſſen, aus der Poeſie auch in die Beredſamkeit
„einzufuͤhren vor rathſam gehalten.

Wir ſehen aus dieſer Stelle das innere Weſen der Pe-
rioden, und begreifen zugleich, wie die erſten Dichter auf
dieſe Erfindung gekommen. Sie ſuchten das Ohr zu ver-
gnuͤgen, und den Leuten beym Anhoͤren ihrer Gedichte kei-
nen Uberdruß zu erwecken. Dahin gehoͤrte nun eine wohlklin-
gende Rede, die in einem Athem ausgeſprochen, und doch

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[236/0264] Das IX. Capitel gebracht, als die proſaiſche. Die Poeten, Muſeus, Or- pheus und Linus haben lange vor dem Pherecydes gelebt, welcher zu allererſt auf die Gedancken gekommen ſeyn ſoll, daß man auch ohne ein gewiſſes Sylbenmaaß ſchreiben koͤn- ne. Und da man auch in dieſen Alten, ſonderlich in Home- ro eine periodiſche Schreibart antrifft: So weiß man her- gegen unter den viel neuern proſaiſchen Scribenten den J- ſocrates zu nennen, der zu allererſt in ungebundner Rede Perioden zu machen angefangen. Cicero giebt uns in ſei- nem dritten Buche vom Redner Nachricht davon. Die Stelle verdient, daß ich ſie anfuͤhre: „Die Alten hielten „davor, man muͤſſe in der ungebundenen Rede auch Ver- „ſe machen, das iſt, ein gewiſſes wohlklingendes Sylben- „maaß beobachten. Denn ſie verlangten, daß man nicht „ſo wohl durch gewiſſe Zeichen der Abtheilung, als viel- „mehr in der Rede ſelbſt, durch die Worte und Saͤtze, in „gewiſſen Stellen einen Schluß machen ſolle, nicht zwar „unſerer Muͤdigkeit, ſondern dem Athemholen zu ſtatten zu „kommen. Und das ſoll vornehmlich Jſocrates aufgebracht „haben, damit er die ungeſchickte Schreibart der Alten, der „Anmuth und des Gehoͤres wegen, zu einem Wohlklange „bringen moͤchte. Denn vermittelſt dieſer zwey Stuͤcke „haben die Muſikverſtaͤndigen, welche vorzeiten mit den „Poeten einerley waren, den Vers und Geſang zur Beln- „ſtigung ausgekuͤnſtelt, damit ſie ſo wohl durch das Syl- „benmaaß als durch die Stimme beluſtigen, und dem Eckel „der Ohren zuvor kommen moͤchten. Dieſe beyde Stuͤcke „nun, ich meyne den Wechſel der Stimme, und die Abthei- „lung der Rede in geſchloſſene Saͤtze, haben ſie, ſo viel es „ſich thun laſſen, aus der Poeſie auch in die Beredſamkeit „einzufuͤhren vor rathſam gehalten. Wir ſehen aus dieſer Stelle das innere Weſen der Pe- rioden, und begreifen zugleich, wie die erſten Dichter auf dieſe Erfindung gekommen. Sie ſuchten das Ohr zu ver- gnuͤgen, und den Leuten beym Anhoͤren ihrer Gedichte kei- nen Uberdruß zu erwecken. Dahin gehoͤrte nun eine wohlklin- gende Rede, die in einem Athem ausgeſprochen, und doch wohl

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/264>, abgerufen am 24.11.2024.