Das neunte Capitel. Von poetischen Perioden und ihren Zierrathen.
EJn Periodus überhaupt ist eine kurtze Rede, so einen oder etliche Gedancken in sich schließt, und vor sich selbst einen völligen Verstand hat. Jch nenne ihn ei- ne kurtze Rede, um dadurch anzuzeigen, daß er sich zu einer langen wie ein Theil zum gantzen verhält: Denn aus vielen Perioden entsteht erst eine gebundene oder ungebundne Schrifft. Zudem ist die Kürtze eines Periodi eine besondre gute Eigenschafft desselben, wie bald soll gewiesen werden. Jch sage ferner, daß ein Periodus einen oder etliche Gedan- cken in sich schliesse, um dadurch die einfachen Perioden von den zusammen gesetzten zu unterscheiden. Jene bestehen nur aus einem einzigen Satze, darinn man von einer Sa- che etwas bejahet, verneinet, bewundert, fraget, oder in Zweifel zieht. Diese hergegen entstehen aus der Verbin- dung etlicher solcher Sätze, die ihrer Natur nach mit ein- ander zusammen hängen; es sey nun, auf was vor Art es wolle. Endlich fordre ich von einem Periodo, daß er einen völligen Verstand haben solle: damit das Gemüth am En- de desselben einigermaßen befriedigt und ruhig seyn könne. Denn wenn an dem völligen Sinne einer Rede noch was fehlet; so kan man noch nicht stille stehen: sondern die Ge- dancken eilen weiter, und wollen die völlige Meynung der Rede fassen; welches allezeit mit einiger Unruhe verknüpft ist.
Die Poeten haben die Ehre, daß sie die ersten Erfinder der Perioden sind, und daß die Meister der ungebundnen Schreibart ihnen diese Kunst haben ablernen müssen. Wie man überhaupt eher in Versen, als in Prosa geschrieben hat; so ist auch die poetische Schreibart eher ins Geschicke
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Das neunte Capitel. Von poetiſchen Perioden und ihren Zierrathen.
EJn Periodus uͤberhaupt iſt eine kurtze Rede, ſo einen oder etliche Gedancken in ſich ſchließt, und vor ſich ſelbſt einen voͤlligen Verſtand hat. Jch nenne ihn ei- ne kurtze Rede, um dadurch anzuzeigen, daß er ſich zu einer langen wie ein Theil zum gantzen verhaͤlt: Denn aus vielen Perioden entſteht erſt eine gebundene oder ungebundne Schrifft. Zudem iſt die Kuͤrtze eines Periodi eine beſondre gute Eigenſchafft deſſelben, wie bald ſoll gewieſen werden. Jch ſage ferner, daß ein Periodus einen oder etliche Gedan- cken in ſich ſchlieſſe, um dadurch die einfachen Perioden von den zuſammen geſetzten zu unterſcheiden. Jene beſtehen nur aus einem einzigen Satze, darinn man von einer Sa- che etwas bejahet, verneinet, bewundert, fraget, oder in Zweifel zieht. Dieſe hergegen entſtehen aus der Verbin- dung etlicher ſolcher Saͤtze, die ihrer Natur nach mit ein- ander zuſammen haͤngen; es ſey nun, auf was vor Art es wolle. Endlich fordre ich von einem Periodo, daß er einen voͤlligen Verſtand haben ſolle: damit das Gemuͤth am En- de deſſelben einigermaßen befriedigt und ruhig ſeyn koͤnne. Denn wenn an dem voͤlligen Sinne einer Rede noch was fehlet; ſo kan man noch nicht ſtille ſtehen: ſondern die Ge- dancken eilen weiter, und wollen die voͤllige Meynung der Rede faſſen; welches allezeit mit einiger Unruhe verknuͤpft iſt.
Die Poeten haben die Ehre, daß ſie die erſten Erfinder der Perioden ſind, und daß die Meiſter der ungebundnen Schreibart ihnen dieſe Kunſt haben ablernen muͤſſen. Wie man uͤberhaupt eher in Verſen, als in Proſa geſchrieben hat; ſo iſt auch die poetiſche Schreibart eher ins Geſchicke
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Das neunte Capitel.
Von poetiſchen Perioden und ihren
Zierrathen.
EJn Periodus uͤberhaupt iſt eine kurtze Rede, ſo einen
oder etliche Gedancken in ſich ſchließt, und vor ſich
ſelbſt einen voͤlligen Verſtand hat. Jch nenne ihn ei-
ne kurtze Rede, um dadurch anzuzeigen, daß er ſich zu einer
langen wie ein Theil zum gantzen verhaͤlt: Denn aus vielen
Perioden entſteht erſt eine gebundene oder ungebundne
Schrifft. Zudem iſt die Kuͤrtze eines Periodi eine beſondre
gute Eigenſchafft deſſelben, wie bald ſoll gewieſen werden.
Jch ſage ferner, daß ein Periodus einen oder etliche Gedan-
cken in ſich ſchlieſſe, um dadurch die einfachen Perioden von
den zuſammen geſetzten zu unterſcheiden. Jene beſtehen
nur aus einem einzigen Satze, darinn man von einer Sa-
che etwas bejahet, verneinet, bewundert, fraget, oder in
Zweifel zieht. Dieſe hergegen entſtehen aus der Verbin-
dung etlicher ſolcher Saͤtze, die ihrer Natur nach mit ein-
ander zuſammen haͤngen; es ſey nun, auf was vor Art es
wolle. Endlich fordre ich von einem Periodo, daß er einen
voͤlligen Verſtand haben ſolle: damit das Gemuͤth am En-
de deſſelben einigermaßen befriedigt und ruhig ſeyn koͤnne.
Denn wenn an dem voͤlligen Sinne einer Rede noch was
fehlet; ſo kan man noch nicht ſtille ſtehen: ſondern die Ge-
dancken eilen weiter, und wollen die voͤllige Meynung der
Rede faſſen; welches allezeit mit einiger Unruhe verknuͤpft
iſt.
Die Poeten haben die Ehre, daß ſie die erſten Erfinder
der Perioden ſind, und daß die Meiſter der ungebundnen
Schreibart ihnen dieſe Kunſt haben ablernen muͤſſen. Wie
man uͤberhaupt eher in Verſen, als in Proſa geſchrieben
hat; ſo iſt auch die poetiſche Schreibart eher ins Geſchicke
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/263>, abgerufen am 23.11.2024.
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