allen Gattungen der Gedichte brauchen. Was im Schä- fergedichte schön ist, schickt sich in ein Heldengedichte nicht: und was in einer Ode ungemein klinget, wird vor Satiren, Briefe und Elegien viel zu prächtig seyn. Die tragische Schreibart geht fast immer auf Steltzen, d. i. sie redet fast durchgehends verblümt; die comische hergegen geht barfuß, ich meyne, sie braucht die gemeine Sprache der Bürger, doch nach Beschaffenheit ihrer besonderen Charactere. Alle die- se allgemeine Regeln werden in dem andern Theile weitläuf- tiger ausgeführt vorkommen.
Nichts aber ist bey der verblümten Schreibart mehr zu vermeiden als die Dunckelheit. Gewisse Leute verstecken sich in ihren Metaphoren so tief, daß sie endlich selbst nicht wissen, was sie sagen wollen. Man sieht alle ihre Gedan- cken nur durch einen dicken Staub oder Nebel. Der klär- ste Satz wird durch ihren poetischen Ausdruck verfinstert, da doch der Gebrauch verblümter Reden die Sachen weit leb- haffter vorstellen und empfindlicher machen sollte. Es ist wahr, daß Unverständige zuweilen eine so blendende Schreib- art destomehr bewundern, je weniger sie dieselbe verstehen: Allein Kenner gehen auf den Kern der Gedancken, und wenn derselbe gar nicht, oder doch kaum zu errathen ist, so schmeißen sie ein solch Gedicht beyseite. Sonderlich thun sie dieses, wenn gar, über den schwülstigen Ausdrückungen, die Spra- che Noth leidet, welches offt zu geschehen pflegt. Denn manchen vermeynten schönen Gedancken anzubringen, neh- men sich die Herren Poeten die grösten Freyheiten, wieder alle Regeln der Sprach-Kunst, und einer reinen Mundart. Jch schließe daher dieß Capitel mit des Boileau Worten. Art. Poet. Ch. I.
Il est certains Esprits, dont les sombres pensees Sont d' un nuage epais toujours embarassees; Le jour de la raison ne les sauroit percer: Avant done que d' ecrire, aprenez a penser! Selon que notre idee, est plus ou moins obscure, L' expression la suit ou moins nette ou plus pure. Ce que l'on concoit bien s' enonce clairement, Et les mots, pour le dire, arrivent aisement.
Das
Das VIII. Capitel
allen Gattungen der Gedichte brauchen. Was im Schaͤ- fergedichte ſchoͤn iſt, ſchickt ſich in ein Heldengedichte nicht: und was in einer Ode ungemein klinget, wird vor Satiren, Briefe und Elegien viel zu praͤchtig ſeyn. Die tragiſche Schreibart geht faſt immer auf Steltzen, d. i. ſie redet faſt durchgehends verbluͤmt; die comiſche hergegen geht barfuß, ich meyne, ſie braucht die gemeine Sprache der Buͤrger, doch nach Beſchaffenheit ihrer beſonderen Charactere. Alle die- ſe allgemeine Regeln werden in dem andern Theile weitlaͤuf- tiger ausgefuͤhrt vorkommen.
Nichts aber iſt bey der verbluͤmten Schreibart mehr zu vermeiden als die Dunckelheit. Gewiſſe Leute verſtecken ſich in ihren Metaphoren ſo tief, daß ſie endlich ſelbſt nicht wiſſen, was ſie ſagen wollen. Man ſieht alle ihre Gedan- cken nur durch einen dicken Staub oder Nebel. Der klaͤr- ſte Satz wird durch ihren poetiſchen Ausdruck verfinſtert, da doch der Gebrauch verbluͤmter Reden die Sachen weit leb- haffter vorſtellen und empfindlicher machen ſollte. Es iſt wahr, daß Unverſtaͤndige zuweilen eine ſo blendende Schreib- art deſtomehr bewundern, je weniger ſie dieſelbe verſtehen: Allein Kenner gehen auf den Kern der Gedancken, und wenn derſelbe gar nicht, oder doch kaum zu errathen iſt, ſo ſchmeißen ſie ein ſolch Gedicht beyſeite. Sonderlich thun ſie dieſes, wenn gar, uͤber den ſchwuͤlſtigen Ausdruͤckungen, die Spra- che Noth leidet, welches offt zu geſchehen pflegt. Denn manchen vermeynten ſchoͤnen Gedancken anzubringen, neh- men ſich die Herren Poeten die groͤſten Freyheiten, wieder alle Regeln der Sprach-Kunſt, und einer reinen Mundart. Jch ſchließe daher dieß Capitel mit des Boileau Worten. Art. Poet. Ch. I.
Il eſt certains Eſprits, dont les ſombres penſées Sont d’ un nuage épais toujours embaraſſées; Le jour de la raiſon ne les ſauroit percer: Avant done que d’ ecrire, aprenez à penſer! Selon que notre idee, eſt plus ou moins obſcure, L’ expreſſion la ſuit ou moins nette ou plus pure. Ce que l’on conçoit bien s’ enonce clairement, Et les mots, pour le dire, arrivent aiſement.
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Das VIII. Capitel
allen Gattungen der Gedichte brauchen. Was im Schaͤ-
fergedichte ſchoͤn iſt, ſchickt ſich in ein Heldengedichte nicht:
und was in einer Ode ungemein klinget, wird vor Satiren,
Briefe und Elegien viel zu praͤchtig ſeyn. Die tragiſche
Schreibart geht faſt immer auf Steltzen, d. i. ſie redet faſt
durchgehends verbluͤmt; die comiſche hergegen geht barfuß,
ich meyne, ſie braucht die gemeine Sprache der Buͤrger, doch
nach Beſchaffenheit ihrer beſonderen Charactere. Alle die-
ſe allgemeine Regeln werden in dem andern Theile weitlaͤuf-
tiger ausgefuͤhrt vorkommen.
Nichts aber iſt bey der verbluͤmten Schreibart mehr zu
vermeiden als die Dunckelheit. Gewiſſe Leute verſtecken
ſich in ihren Metaphoren ſo tief, daß ſie endlich ſelbſt nicht
wiſſen, was ſie ſagen wollen. Man ſieht alle ihre Gedan-
cken nur durch einen dicken Staub oder Nebel. Der klaͤr-
ſte Satz wird durch ihren poetiſchen Ausdruck verfinſtert, da
doch der Gebrauch verbluͤmter Reden die Sachen weit leb-
haffter vorſtellen und empfindlicher machen ſollte. Es iſt
wahr, daß Unverſtaͤndige zuweilen eine ſo blendende Schreib-
art deſtomehr bewundern, je weniger ſie dieſelbe verſtehen:
Allein Kenner gehen auf den Kern der Gedancken, und wenn
derſelbe gar nicht, oder doch kaum zu errathen iſt, ſo ſchmeißen
ſie ein ſolch Gedicht beyſeite. Sonderlich thun ſie dieſes,
wenn gar, uͤber den ſchwuͤlſtigen Ausdruͤckungen, die Spra-
che Noth leidet, welches offt zu geſchehen pflegt. Denn
manchen vermeynten ſchoͤnen Gedancken anzubringen, neh-
men ſich die Herren Poeten die groͤſten Freyheiten, wieder alle
Regeln der Sprach-Kunſt, und einer reinen Mundart. Jch
ſchließe daher dieß Capitel mit des Boileau Worten. Art.
Poet. Ch. I.
Il eſt certains Eſprits, dont les ſombres penſées
Sont d’ un nuage épais toujours embaraſſées;
Le jour de la raiſon ne les ſauroit percer:
Avant done que d’ ecrire, aprenez à penſer!
Selon que notre idee, eſt plus ou moins obſcure,
L’ expreſſion la ſuit ou moins nette ou plus pure.
Ce que l’on conçoit bien s’ enonce clairement,
Et les mots, pour le dire, arrivent aiſement.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/262>, abgerufen am 23.11.2024.
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