Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorbericht.
ten, den Preis streitig zu machen. Die Schrifften unse-
res Horatii zeigen an hundert Stellen unzehliche Spuren
davon; und sogar Virgil, so wenig er sonst zur Satire
geneigt war, hat sich nicht enthalten können, auf einen
Bavium und Mävium als ein paar eingebildete Poeten
zu sticheln.

Horatz, einer der aufgeklärtesten Köpfe seiner Zeit,
konnte aus einem gerechten Eifer vor den guten Ge-
schmack, den Stoltz solcher Stümper nicht leiden: zumahl
er sehen muste, daß der grosse Haufe seiner Mitbürger von
diesen unzeitigen Sylbenhenckern gantz eingenommen
war. Denn die Römer waren auch zu Augusts Zeiten
lange so gescheidt noch nicht, als vormahls die Athenien-
ser in Griechenland gewesen. Die freyen Künste hatten
in Jtalien spät zu blühen angefangen, und der gute Ge-
schmack war damahls noch lange nicht allgemein worden.
Nach Regeln von Dingen zu urtheilen, das ist ohne dem
kein Werck vor unstudirte Leute, ja nicht einmahl vor
Halbgelehrte: Und daher kam es, daß Horatz theils sei-
nen Römern eine Anleitung geben wollte, wie sie die
Schrifften ihrer Poeten recht prüfen könnten; theils auch
der grossen Anzahl der damahligen Versmacher die Au-
gen zu öffnen suchte, damit sie nicht ferner aus blinder
Eigenliebe ihre Mißgeburten vor Meisterstücke ausgeben
möchten.

Jn dieser Absicht nun trug er aus den griechischen Scri-
benten, so vor ihm davon geschrieben hatten, die vornehm-
sten Hauptregeln zusammen, und verfertigte ein herrli-
ches Gedichte daraus. Er richtete solches an die Pisones,
das ist an den Vater Piso, der mit dem Drusus Libo im
Jahr der Stadt Rom 738, als Horatius ein und funfzig

Jahr

Vorbericht.
ten, den Preis ſtreitig zu machen. Die Schrifften unſe-
res Horatii zeigen an hundert Stellen unzehliche Spuren
davon; und ſogar Virgil, ſo wenig er ſonſt zur Satire
geneigt war, hat ſich nicht enthalten koͤnnen, auf einen
Bavium und Maͤvium als ein paar eingebildete Poeten
zu ſticheln.

Horatz, einer der aufgeklaͤrteſten Koͤpfe ſeiner Zeit,
konnte aus einem gerechten Eifer vor den guten Ge-
ſchmack, den Stoltz ſolcher Stuͤmper nicht leiden: zumahl
er ſehen muſte, daß der groſſe Haufe ſeiner Mitbuͤrger von
dieſen unzeitigen Sylbenhenckern gantz eingenommen
war. Denn die Roͤmer waren auch zu Auguſts Zeiten
lange ſo geſcheidt noch nicht, als vormahls die Athenien-
ſer in Griechenland geweſen. Die freyen Kuͤnſte hatten
in Jtalien ſpaͤt zu bluͤhen angefangen, und der gute Ge-
ſchmack war damahls noch lange nicht allgemein worden.
Nach Regeln von Dingen zu urtheilen, das iſt ohne dem
kein Werck vor unſtudirte Leute, ja nicht einmahl vor
Halbgelehrte: Und daher kam es, daß Horatz theils ſei-
nen Roͤmern eine Anleitung geben wollte, wie ſie die
Schrifften ihrer Poeten recht pruͤfen koͤnnten; theils auch
der groſſen Anzahl der damahligen Versmacher die Au-
gen zu oͤffnen ſuchte, damit ſie nicht ferner aus blinder
Eigenliebe ihre Mißgeburten vor Meiſterſtuͤcke ausgeben
moͤchten.

Jn dieſer Abſicht nun trug er aus den griechiſchen Scri-
benten, ſo vor ihm davon geſchrieben hatten, die vornehm-
ſten Hauptregeln zuſammen, und verfertigte ein herrli-
ches Gedichte daraus. Er richtete ſolches an die Piſones,
das iſt an den Vater Piſo, der mit dem Druſus Libo im
Jahr der Stadt Rom 738, als Horatius ein und funfzig

Jahr
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0032" n="4"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Vorbericht.</hi></fw><lb/>
ten, den Preis &#x017F;treitig zu machen. Die Schrifften un&#x017F;e-<lb/>
res Horatii zeigen an hundert Stellen unzehliche Spuren<lb/>
davon; und &#x017F;ogar Virgil, &#x017F;o wenig er &#x017F;on&#x017F;t zur Satire<lb/>
geneigt war, hat &#x017F;ich nicht enthalten ko&#x0364;nnen, auf einen<lb/>
Bavium und Ma&#x0364;vium als ein paar eingebildete Poeten<lb/>
zu &#x017F;ticheln.</p><lb/>
          <p>Horatz, einer der aufgekla&#x0364;rte&#x017F;ten Ko&#x0364;pfe &#x017F;einer Zeit,<lb/>
konnte aus einem gerechten Eifer vor den guten Ge-<lb/>
&#x017F;chmack, den Stoltz &#x017F;olcher Stu&#x0364;mper nicht leiden: zumahl<lb/>
er &#x017F;ehen mu&#x017F;te, daß der gro&#x017F;&#x017F;e Haufe &#x017F;einer Mitbu&#x0364;rger von<lb/>
die&#x017F;en unzeitigen Sylbenhenckern gantz eingenommen<lb/>
war. Denn die Ro&#x0364;mer waren auch zu Augu&#x017F;ts Zeiten<lb/>
lange &#x017F;o ge&#x017F;cheidt noch nicht, als vormahls die Athenien-<lb/>
&#x017F;er in Griechenland gewe&#x017F;en. Die freyen Ku&#x0364;n&#x017F;te hatten<lb/>
in Jtalien &#x017F;pa&#x0364;t zu blu&#x0364;hen angefangen, und der gute Ge-<lb/>
&#x017F;chmack war damahls noch lange nicht allgemein worden.<lb/>
Nach Regeln von Dingen zu urtheilen, das i&#x017F;t ohne dem<lb/>
kein Werck vor un&#x017F;tudirte Leute, ja nicht einmahl vor<lb/>
Halbgelehrte: Und daher kam es, daß Horatz theils &#x017F;ei-<lb/>
nen Ro&#x0364;mern eine Anleitung geben wollte, wie &#x017F;ie die<lb/>
Schrifften ihrer Poeten recht pru&#x0364;fen ko&#x0364;nnten; theils auch<lb/>
der gro&#x017F;&#x017F;en Anzahl der damahligen Versmacher die Au-<lb/>
gen zu o&#x0364;ffnen &#x017F;uchte, damit &#x017F;ie nicht ferner aus blinder<lb/>
Eigenliebe ihre Mißgeburten vor Mei&#x017F;ter&#x017F;tu&#x0364;cke ausgeben<lb/>
mo&#x0364;chten.</p><lb/>
          <p>Jn die&#x017F;er Ab&#x017F;icht nun trug er aus den griechi&#x017F;chen Scri-<lb/>
benten, &#x017F;o vor ihm davon ge&#x017F;chrieben hatten, die vornehm-<lb/>
&#x017F;ten Hauptregeln zu&#x017F;ammen, und verfertigte ein herrli-<lb/>
ches Gedichte daraus. Er richtete &#x017F;olches an die Pi&#x017F;ones,<lb/>
das i&#x017F;t an den Vater Pi&#x017F;o, der mit dem Dru&#x017F;us Libo im<lb/>
Jahr der Stadt Rom 738, als Horatius ein und funfzig<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Jahr</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0032] Vorbericht. ten, den Preis ſtreitig zu machen. Die Schrifften unſe- res Horatii zeigen an hundert Stellen unzehliche Spuren davon; und ſogar Virgil, ſo wenig er ſonſt zur Satire geneigt war, hat ſich nicht enthalten koͤnnen, auf einen Bavium und Maͤvium als ein paar eingebildete Poeten zu ſticheln. Horatz, einer der aufgeklaͤrteſten Koͤpfe ſeiner Zeit, konnte aus einem gerechten Eifer vor den guten Ge- ſchmack, den Stoltz ſolcher Stuͤmper nicht leiden: zumahl er ſehen muſte, daß der groſſe Haufe ſeiner Mitbuͤrger von dieſen unzeitigen Sylbenhenckern gantz eingenommen war. Denn die Roͤmer waren auch zu Auguſts Zeiten lange ſo geſcheidt noch nicht, als vormahls die Athenien- ſer in Griechenland geweſen. Die freyen Kuͤnſte hatten in Jtalien ſpaͤt zu bluͤhen angefangen, und der gute Ge- ſchmack war damahls noch lange nicht allgemein worden. Nach Regeln von Dingen zu urtheilen, das iſt ohne dem kein Werck vor unſtudirte Leute, ja nicht einmahl vor Halbgelehrte: Und daher kam es, daß Horatz theils ſei- nen Roͤmern eine Anleitung geben wollte, wie ſie die Schrifften ihrer Poeten recht pruͤfen koͤnnten; theils auch der groſſen Anzahl der damahligen Versmacher die Au- gen zu oͤffnen ſuchte, damit ſie nicht ferner aus blinder Eigenliebe ihre Mißgeburten vor Meiſterſtuͤcke ausgeben moͤchten. Jn dieſer Abſicht nun trug er aus den griechiſchen Scri- benten, ſo vor ihm davon geſchrieben hatten, die vornehm- ſten Hauptregeln zuſammen, und verfertigte ein herrli- ches Gedichte daraus. Er richtete ſolches an die Piſones, das iſt an den Vater Piſo, der mit dem Druſus Libo im Jahr der Stadt Rom 738, als Horatius ein und funfzig Jahr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/32
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/32>, abgerufen am 21.11.2024.