Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der poetischen Schreibart.
Laufe ein solches Geräusche mache; weil sie nehmlich
Goldkörner bey sich führe und über so viele Corallen-
Stauden und Edelgesteine wegrieseln müsse.
Ein Lieb-
haber der Vernunft findet hier, was Horatz verworfen hat.

Versus inopes rerum nugasque canoras.

Noch ist zum dritten die pathetische, oder affectuöse,
hitzige und hefftige Schreibart übrig, deren Nahmen satt-
sam ihre Art anzeigen. Sie entsteht aus allen Gemüths-
Bewegungen, und ist gleichsam die Sprache derselben. Sie
ändert sich nach Beschaffenheit derselben, und ist bald kurtz
und abgebrochen, bald etwas weitläuftig; allezeit aber vol-
ler Figuren, und verwegenen Ausdrückungen. Sie hält
nichts von sinnreichen Einfällen, Gleichnissen oder andern
Künsten. Sie folgt einer hitzigen Unbedachtsamkeit, die
in allen Affecten herrscht, und keinem Zeit läßt auszustu-
diren, was er sagen will. Sie scheint auch mehr zu don-
nern und zu blitzen, als zu reden; weil alles unvermuthet
herausfährt, und man zuweilen nicht begreifen kan, wo
alles mit einander hergekommen. Sie meidet alle Ver-
bindungs-Wörter, und ist zufrieden, wenn die Sachen ei-
nigermassen zusammen hangen. Und in dieser Schreibart
hat mehrentheils das sogenannte Hohe seinen Sitz, davon
Longinus uns ein gantz Buch geschrieben, und davon uns
Herr Bodmer noch neulich ein neues Werck versprochen.

Der Sitz dieser pathetischen Schreibart, ist anfänglich
in Oden, wo der Poet selbst im Affecte steht, und sich voller
Feuer ausdrückt. Ein Exempel giebt Günthers Ode auf
Eugenium, die fast durchgehends diesen Character beob-
achtet hat. Sein Affect ist daselbst die Freude, und heff-
tige Begierde seines Helden grosse Thaten zu loben. Er
sieht ihn gleichsam vor seinen Augen verschwinden, und feurt
seine Musen an ihm nachzueilen:

Eugen ist fort! Jhr Musen, nach!
Er eilt und schlägt und siegt schon wieder.

Diese abgebrochene kurtze Art des Ausdruckes ist in der
That eine glückliche Nachahmung des stärckesten Affects.

Die

Von der poetiſchen Schreibart.
Laufe ein ſolches Geraͤuſche mache; weil ſie nehmlich
Goldkoͤrner bey ſich fuͤhre und uͤber ſo viele Corallen-
Stauden und Edelgeſteine wegrieſeln muͤſſe.
Ein Lieb-
haber der Vernunft findet hier, was Horatz verworfen hat.

Verſus inopes rerum nugasque canoras.

Noch iſt zum dritten die pathetiſche, oder affectuoͤſe,
hitzige und hefftige Schreibart uͤbrig, deren Nahmen ſatt-
ſam ihre Art anzeigen. Sie entſteht aus allen Gemuͤths-
Bewegungen, und iſt gleichſam die Sprache derſelben. Sie
aͤndert ſich nach Beſchaffenheit derſelben, und iſt bald kurtz
und abgebrochen, bald etwas weitlaͤuftig; allezeit aber vol-
ler Figuren, und verwegenen Ausdruͤckungen. Sie haͤlt
nichts von ſinnreichen Einfaͤllen, Gleichniſſen oder andern
Kuͤnſten. Sie folgt einer hitzigen Unbedachtſamkeit, die
in allen Affecten herrſcht, und keinem Zeit laͤßt auszuſtu-
diren, was er ſagen will. Sie ſcheint auch mehr zu don-
nern und zu blitzen, als zu reden; weil alles unvermuthet
herausfaͤhrt, und man zuweilen nicht begreifen kan, wo
alles mit einander hergekommen. Sie meidet alle Ver-
bindungs-Woͤrter, und iſt zufrieden, wenn die Sachen ei-
nigermaſſen zuſammen hangen. Und in dieſer Schreibart
hat mehrentheils das ſogenannte Hohe ſeinen Sitz, davon
Longinus uns ein gantz Buch geſchrieben, und davon uns
Herr Bodmer noch neulich ein neues Werck verſprochen.

Der Sitz dieſer pathetiſchen Schreibart, iſt anfaͤnglich
in Oden, wo der Poet ſelbſt im Affecte ſteht, und ſich voller
Feuer ausdruͤckt. Ein Exempel giebt Guͤnthers Ode auf
Eugenium, die faſt durchgehends dieſen Character beob-
achtet hat. Sein Affect iſt daſelbſt die Freude, und heff-
tige Begierde ſeines Helden groſſe Thaten zu loben. Er
ſieht ihn gleichſam vor ſeinen Augen verſchwinden, und feurt
ſeine Muſen an ihm nachzueilen:

Eugen iſt fort! Jhr Muſen, nach!
Er eilt und ſchlaͤgt und ſiegt ſchon wieder.

Dieſe abgebrochene kurtze Art des Ausdruckes iſt in der
That eine gluͤckliche Nachahmung des ſtaͤrckeſten Affects.

Die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0327" n="299"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von der poeti&#x017F;chen Schreibart.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">Laufe ein &#x017F;olches Gera&#x0364;u&#x017F;che mache; weil &#x017F;ie nehmlich<lb/>
Goldko&#x0364;rner bey &#x017F;ich fu&#x0364;hre und u&#x0364;ber &#x017F;o viele Corallen-<lb/>
Stauden und Edelge&#x017F;teine wegrie&#x017F;eln mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.</hi> Ein Lieb-<lb/>
haber der Vernunft findet hier, was Horatz verworfen hat.</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Ver&#x017F;us inopes rerum nugasque canoras.</hi> </quote>
          </cit><lb/>
          <p>Noch i&#x017F;t zum dritten die patheti&#x017F;che, oder affectuo&#x0364;&#x017F;e,<lb/>
hitzige und hefftige Schreibart u&#x0364;brig, deren Nahmen &#x017F;att-<lb/>
&#x017F;am ihre Art anzeigen. Sie ent&#x017F;teht aus allen Gemu&#x0364;ths-<lb/>
Bewegungen, und i&#x017F;t gleich&#x017F;am die Sprache der&#x017F;elben. Sie<lb/>
a&#x0364;ndert &#x017F;ich nach Be&#x017F;chaffenheit der&#x017F;elben, und i&#x017F;t bald kurtz<lb/>
und abgebrochen, bald etwas weitla&#x0364;uftig; allezeit aber vol-<lb/>
ler Figuren, und verwegenen Ausdru&#x0364;ckungen. Sie ha&#x0364;lt<lb/>
nichts von &#x017F;innreichen Einfa&#x0364;llen, Gleichni&#x017F;&#x017F;en oder andern<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;ten. Sie folgt einer hitzigen Unbedacht&#x017F;amkeit, die<lb/>
in allen Affecten herr&#x017F;cht, und keinem Zeit la&#x0364;ßt auszu&#x017F;tu-<lb/>
diren, was er &#x017F;agen will. Sie &#x017F;cheint auch mehr zu don-<lb/>
nern und zu blitzen, als zu reden; weil alles unvermuthet<lb/>
herausfa&#x0364;hrt, und man zuweilen nicht begreifen kan, wo<lb/>
alles mit einander hergekommen. Sie meidet alle Ver-<lb/>
bindungs-Wo&#x0364;rter, und i&#x017F;t zufrieden, wenn die Sachen ei-<lb/>
nigerma&#x017F;&#x017F;en zu&#x017F;ammen hangen. Und in die&#x017F;er Schreibart<lb/>
hat mehrentheils das &#x017F;ogenannte Hohe &#x017F;einen Sitz, davon<lb/>
Longinus uns ein gantz Buch ge&#x017F;chrieben, und davon uns<lb/>
Herr Bodmer noch neulich ein neues Werck ver&#x017F;prochen.</p><lb/>
          <p>Der Sitz die&#x017F;er patheti&#x017F;chen Schreibart, i&#x017F;t anfa&#x0364;nglich<lb/>
in Oden, wo der Poet &#x017F;elb&#x017F;t im Affecte &#x017F;teht, und &#x017F;ich voller<lb/>
Feuer ausdru&#x0364;ckt. Ein Exempel giebt Gu&#x0364;nthers Ode auf<lb/>
Eugenium, die fa&#x017F;t durchgehends die&#x017F;en Character beob-<lb/>
achtet hat. Sein Affect i&#x017F;t da&#x017F;elb&#x017F;t die Freude, und heff-<lb/>
tige Begierde &#x017F;eines Helden gro&#x017F;&#x017F;e Thaten zu loben. Er<lb/>
&#x017F;ieht ihn gleich&#x017F;am vor &#x017F;einen Augen ver&#x017F;chwinden, und feurt<lb/>
&#x017F;eine Mu&#x017F;en an ihm nachzueilen:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Eugen i&#x017F;t fort! Jhr Mu&#x017F;en, nach!</l><lb/>
            <l>Er eilt und &#x017F;chla&#x0364;gt und &#x017F;iegt &#x017F;chon wieder.</l>
          </lg><lb/>
          <p>Die&#x017F;e abgebrochene kurtze Art des Ausdruckes i&#x017F;t in der<lb/>
That eine glu&#x0364;ckliche Nachahmung des &#x017F;ta&#x0364;rcke&#x017F;ten Affects.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[299/0327] Von der poetiſchen Schreibart. Laufe ein ſolches Geraͤuſche mache; weil ſie nehmlich Goldkoͤrner bey ſich fuͤhre und uͤber ſo viele Corallen- Stauden und Edelgeſteine wegrieſeln muͤſſe. Ein Lieb- haber der Vernunft findet hier, was Horatz verworfen hat. Verſus inopes rerum nugasque canoras. Noch iſt zum dritten die pathetiſche, oder affectuoͤſe, hitzige und hefftige Schreibart uͤbrig, deren Nahmen ſatt- ſam ihre Art anzeigen. Sie entſteht aus allen Gemuͤths- Bewegungen, und iſt gleichſam die Sprache derſelben. Sie aͤndert ſich nach Beſchaffenheit derſelben, und iſt bald kurtz und abgebrochen, bald etwas weitlaͤuftig; allezeit aber vol- ler Figuren, und verwegenen Ausdruͤckungen. Sie haͤlt nichts von ſinnreichen Einfaͤllen, Gleichniſſen oder andern Kuͤnſten. Sie folgt einer hitzigen Unbedachtſamkeit, die in allen Affecten herrſcht, und keinem Zeit laͤßt auszuſtu- diren, was er ſagen will. Sie ſcheint auch mehr zu don- nern und zu blitzen, als zu reden; weil alles unvermuthet herausfaͤhrt, und man zuweilen nicht begreifen kan, wo alles mit einander hergekommen. Sie meidet alle Ver- bindungs-Woͤrter, und iſt zufrieden, wenn die Sachen ei- nigermaſſen zuſammen hangen. Und in dieſer Schreibart hat mehrentheils das ſogenannte Hohe ſeinen Sitz, davon Longinus uns ein gantz Buch geſchrieben, und davon uns Herr Bodmer noch neulich ein neues Werck verſprochen. Der Sitz dieſer pathetiſchen Schreibart, iſt anfaͤnglich in Oden, wo der Poet ſelbſt im Affecte ſteht, und ſich voller Feuer ausdruͤckt. Ein Exempel giebt Guͤnthers Ode auf Eugenium, die faſt durchgehends dieſen Character beob- achtet hat. Sein Affect iſt daſelbſt die Freude, und heff- tige Begierde ſeines Helden groſſe Thaten zu loben. Er ſieht ihn gleichſam vor ſeinen Augen verſchwinden, und feurt ſeine Muſen an ihm nachzueilen: Eugen iſt fort! Jhr Muſen, nach! Er eilt und ſchlaͤgt und ſiegt ſchon wieder. Dieſe abgebrochene kurtze Art des Ausdruckes iſt in der That eine gluͤckliche Nachahmung des ſtaͤrckeſten Affects. Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/327
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/327>, abgerufen am 24.11.2024.