der Doppellaut muß nach Art zweyer kurtzen Sylben e und i ausgesprochen werden.
Daß dieses auch in der Lateinischen Sprache gelte, kan gantz augenscheinlich erwiesen werden. Unsre prosaische Aussprache taugt nichts, weil wir die Länge und Kürze der Sylben nicht so ausdrücken, wie sie in ihren Poeten befindlich ist. Das gemeine Volck in Rom, so von der Länge uud Kürze der Sylben keine Regeln gelernet hatte, konnte es nach dem Zeugnisse Cicerons hören, wenn ein Poet eine kurze Sylbe lang, oder eine lange kurtz gebraucht hatte. Denn nachdem er von dem Wohlklange überhaupt erst gesagt: Illud autem ne quis admiretur, quonam modo haec vulgus imperitorum in audiendo notet; cum in omni genere; tum in hoc ipso magna quaedam est vis incredibilisque naturae. So setzt er nach einer allgemeinen Anmerckung von den Urtheilen, die nach dem Geschmacke allein gefället werden, hinzu: Itaque non solum verbis arte positis mouentur omnes, verum et- iam numeris ac vocibus. Quotus enim quisque est, qui teneat artem numerorum ac modorum? At in his, si paul- lum modo offensum est, vt aut contractione breuius fieret, aut productione longius, theatra tota reclamant. Nun sa- ge mir jemand, wie das möglich gewesen wäre, wenn nicht die Lateinischen Sylben ihre Länge und Kürtze bloß nach der gewöhnlichen Aussprache der Römer gehabt, davon also der Pöbel so wohl als der Poet, nach dem Gehöre urthei- len können. Aber unsre Lateinische Sprachmeister wollen gern in der Prosodie der Alten besondre Geheimnisse finden, und durch künstliche Regeln die Länge und Kürtze der Syl- ben ausmachen. Bey unsrer verderbten Aussprache des Lateins thun sie uns dadurch zwar gute Dienste: Wie wol- len sie es aber beweisen, daß auch Virgil eine Prosodie ha- be lernen müssen? Es war also mit den alten Sprachen nicht anders beschaffen, als mit den heutigen, die ein Syl- benmaaß in ihrer Poesie haben; und alle Deutscher Ab- kunft sind. Jhre fürnehmste prosodische Regel war, eben so wie bey uns, diese: Ein Poet richte sich in der Scan- sion nach der gemeinen Aussprache. Dieses könnte noch
be-
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Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.
der Doppellaut muß nach Art zweyer kurtzen Sylben e und i ausgeſprochen werden.
Daß dieſes auch in der Lateiniſchen Sprache gelte, kan gantz augenſcheinlich erwieſen werden. Unſre proſaiſche Ausſprache taugt nichts, weil wir die Laͤnge und Kuͤrze der Sylben nicht ſo ausdruͤcken, wie ſie in ihren Poeten befindlich iſt. Das gemeine Volck in Rom, ſo von der Laͤnge uud Kuͤrze der Sylben keine Regeln gelernet hatte, konnte es nach dem Zeugniſſe Cicerons hoͤren, wenn ein Poet eine kurze Sylbe lang, oder eine lange kurtz gebraucht hatte. Denn nachdem er von dem Wohlklange uͤberhaupt erſt geſagt: Illud autem ne quis admiretur, quonam modo haec vulgus imperitorum in audiendo notet; cum in omni genere; tum in hoc ipſo magna quaedam eſt vis incredibilisque naturae. So ſetzt er nach einer allgemeinen Anmerckung von den Urtheilen, die nach dem Geſchmacke allein gefaͤllet werden, hinzu: Itaque non ſolum verbis arte poſitis mouentur omnes, verum et- iam numeris ac vocibus. Quotus enim quisque eſt, qui teneat artem numerorum ac modorum? At in his, ſi paul- lum modo offenſum eſt, vt aut contractione breuius fieret, aut productione longius, theatra tota reclamant. Nun ſa- ge mir jemand, wie das moͤglich geweſen waͤre, wenn nicht die Lateiniſchen Sylben ihre Laͤnge und Kuͤrtze bloß nach der gewoͤhnlichen Ausſprache der Roͤmer gehabt, davon alſo der Poͤbel ſo wohl als der Poet, nach dem Gehoͤre urthei- len koͤnnen. Aber unſre Lateiniſche Sprachmeiſter wollen gern in der Proſodie der Alten beſondre Geheimniſſe finden, und durch kuͤnſtliche Regeln die Laͤnge und Kuͤrtze der Syl- ben ausmachen. Bey unſrer verderbten Ausſprache des Lateins thun ſie uns dadurch zwar gute Dienſte: Wie wol- len ſie es aber beweiſen, daß auch Virgil eine Proſodie ha- be lernen muͤſſen? Es war alſo mit den alten Sprachen nicht anders beſchaffen, als mit den heutigen, die ein Syl- benmaaß in ihrer Poeſie haben; und alle Deutſcher Ab- kunft ſind. Jhre fuͤrnehmſte proſodiſche Regel war, eben ſo wie bey uns, dieſe: Ein Poet richte ſich in der Scan- ſion nach der gemeinen Ausſprache. Dieſes koͤnnte noch
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Von dem Wohlklange der poetiſchen Schreibart.
der Doppellaut muß nach Art zweyer kurtzen Sylben e und i
ausgeſprochen werden.
Daß dieſes auch in der Lateiniſchen Sprache gelte, kan
gantz augenſcheinlich erwieſen werden. Unſre proſaiſche
Ausſprache taugt nichts, weil wir die Laͤnge und Kuͤrze der
Sylben nicht ſo ausdruͤcken, wie ſie in ihren Poeten befindlich
iſt. Das gemeine Volck in Rom, ſo von der Laͤnge uud Kuͤrze
der Sylben keine Regeln gelernet hatte, konnte es nach dem
Zeugniſſe Cicerons hoͤren, wenn ein Poet eine kurze Sylbe
lang, oder eine lange kurtz gebraucht hatte. Denn nachdem er
von dem Wohlklange uͤberhaupt erſt geſagt: Illud autem
ne quis admiretur, quonam modo haec vulgus imperitorum
in audiendo notet; cum in omni genere; tum in hoc ipſo
magna quaedam eſt vis incredibilisque naturae. So ſetzt er
nach einer allgemeinen Anmerckung von den Urtheilen, die
nach dem Geſchmacke allein gefaͤllet werden, hinzu: Itaque
non ſolum verbis arte poſitis mouentur omnes, verum et-
iam numeris ac vocibus. Quotus enim quisque eſt, qui
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die Lateiniſchen Sylben ihre Laͤnge und Kuͤrtze bloß nach der
gewoͤhnlichen Ausſprache der Roͤmer gehabt, davon alſo
der Poͤbel ſo wohl als der Poet, nach dem Gehoͤre urthei-
len koͤnnen. Aber unſre Lateiniſche Sprachmeiſter wollen
gern in der Proſodie der Alten beſondre Geheimniſſe finden,
und durch kuͤnſtliche Regeln die Laͤnge und Kuͤrtze der Syl-
ben ausmachen. Bey unſrer verderbten Ausſprache des
Lateins thun ſie uns dadurch zwar gute Dienſte: Wie wol-
len ſie es aber beweiſen, daß auch Virgil eine Proſodie ha-
be lernen muͤſſen? Es war alſo mit den alten Sprachen
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benmaaß in ihrer Poeſie haben; und alle Deutſcher Ab-
kunft ſind. Jhre fuͤrnehmſte proſodiſche Regel war, eben
ſo wie bey uns, dieſe: Ein Poet richte ſich in der Scan-
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/335>, abgerufen am 24.11.2024.
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