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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das XII. Capitel
Füssen ausgesprochen, eben so wie die erste Zeile aus Ca-
nitzens Ode auf seine Doris:

Soll ich meine Doris missen.

Nun versuche mans, und verkehre in der Aussprache die
Accente, in die Trochäische Art zu scandiren:

Quellne docte &n sainten yvressen.

Und frage einen Franzosen, ob das recht ausgesprochen sey,
so wird er entweder taub seyn, oder den Unterscheid hören
müssen. Denn es kan in seinen Ohren unmöglich anders
klingen, als wenn ich die Canitzische Zeile so lesen wollte:

Soll ichn meinen Dorisn missenn?

Durch diese kleine Ausschweifung will ich nur zeigen,
wie nothwendig die alten Griechischen Poeten, auf die re-
gelmäßige Vermischung langer und kurtzer Sylben haben
gerathen müssen. Jhr Gehör sagte es ihnen, was lang
oder kurtz war, und aus dem Klange urtheilten sie, welche
Sylbe sich zum Anfange einer Zeile bey einer gewissen Ge-
sang-Weise besser schickte. Weiter brauchten sie kein
Geheimniß zu Erfindung ihrer mannigfaltigen Arten des
Sylbenmaaßes. Die gemeinste Aussprache aller Leute
gab es ihnen an die Hand, und wenn sie ihre Verse lasen,
so geschah es nach der prosodischen Scansion, nicht aber
nach den ungereimten Accenten, die wir heut zu Tage über
die Griechischen Verse setzen. Hätten sie zum Exempel
den ersten Vers Hesiodi,

Mousai pieriethen, aoidesi kleiousai,

nach der Art unserer heutigen Schulmeister ausgesprochen;
so hätten sie ihrer natürlichen Sprache Gewalt angethan,
und folglich auch in Lesung eines Verses kein Vergnügen
empfinden können. Der Accent in dem andern Worte
steht nehmlich auf einer Sylbe, die nach allen Regeln kurtz
ist, und sollte vielmehr auf der folgenden e stehen. Jm-
gleichen im letzten Worte steht das Strichlein überm ei,
wo es eben so wenig hingehört. Das ou ist hier lang und

der

Das XII. Capitel
Fuͤſſen ausgeſprochen, eben ſo wie die erſte Zeile aus Ca-
nitzens Ode auf ſeine Doris:

Soll ich meine Doris miſſen.

Nun verſuche mans, und verkehre in der Ausſprache die
Accente, in die Trochaͤiſche Art zu ſcandiren:

Q̆uell̄e dŏcte &̄ ſaĭntē yvr̆eſſē.

Und frage einen Franzoſen, ob das recht ausgeſprochen ſey,
ſo wird er entweder taub ſeyn, oder den Unterſcheid hoͤren
muͤſſen. Denn es kan in ſeinen Ohren unmoͤglich anders
klingen, als wenn ich die Canitziſche Zeile ſo leſen wollte:

Sŏll ich̄ m̆einē D̆oris̄ m̆iſſen̄?

Durch dieſe kleine Ausſchweifung will ich nur zeigen,
wie nothwendig die alten Griechiſchen Poeten, auf die re-
gelmaͤßige Vermiſchung langer und kurtzer Sylben haben
gerathen muͤſſen. Jhr Gehoͤr ſagte es ihnen, was lang
oder kurtz war, und aus dem Klange urtheilten ſie, welche
Sylbe ſich zum Anfange einer Zeile bey einer gewiſſen Ge-
ſang-Weiſe beſſer ſchickte. Weiter brauchten ſie kein
Geheimniß zu Erfindung ihrer mannigfaltigen Arten des
Sylbenmaaßes. Die gemeinſte Ausſprache aller Leute
gab es ihnen an die Hand, und wenn ſie ihre Verſe laſen,
ſo geſchah es nach der proſodiſchen Scanſion, nicht aber
nach den ungereimten Accenten, die wir heut zu Tage uͤber
die Griechiſchen Verſe ſetzen. Haͤtten ſie zum Exempel
den erſten Vers Heſiodi,

Μοῦσαι πιερίηϑεν, ἀοιδῆσι κλείουσαι,

nach der Art unſerer heutigen Schulmeiſter ausgeſprochen;
ſo haͤtten ſie ihrer natuͤrlichen Sprache Gewalt angethan,
und folglich auch in Leſung eines Verſes kein Vergnuͤgen
empfinden koͤnnen. Der Accent in dem andern Worte
ſteht nehmlich auf einer Sylbe, die nach allen Regeln kurtz
iſt, und ſollte vielmehr auf der folgenden η ſtehen. Jm-
gleichen im letzten Worte ſteht das Strichlein uͤberm ει,
wo es eben ſo wenig hingehoͤrt. Das ου iſt hier lang und

der
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[306/0334] Das XII. Capitel Fuͤſſen ausgeſprochen, eben ſo wie die erſte Zeile aus Ca- nitzens Ode auf ſeine Doris: Soll ich meine Doris miſſen. Nun verſuche mans, und verkehre in der Ausſprache die Accente, in die Trochaͤiſche Art zu ſcandiren: Q̆uell̄e dŏcte &̄ ſaĭntē yvr̆eſſē. Und frage einen Franzoſen, ob das recht ausgeſprochen ſey, ſo wird er entweder taub ſeyn, oder den Unterſcheid hoͤren muͤſſen. Denn es kan in ſeinen Ohren unmoͤglich anders klingen, als wenn ich die Canitziſche Zeile ſo leſen wollte: Sŏll ich̄ m̆einē D̆oris̄ m̆iſſen̄? Durch dieſe kleine Ausſchweifung will ich nur zeigen, wie nothwendig die alten Griechiſchen Poeten, auf die re- gelmaͤßige Vermiſchung langer und kurtzer Sylben haben gerathen muͤſſen. Jhr Gehoͤr ſagte es ihnen, was lang oder kurtz war, und aus dem Klange urtheilten ſie, welche Sylbe ſich zum Anfange einer Zeile bey einer gewiſſen Ge- ſang-Weiſe beſſer ſchickte. Weiter brauchten ſie kein Geheimniß zu Erfindung ihrer mannigfaltigen Arten des Sylbenmaaßes. Die gemeinſte Ausſprache aller Leute gab es ihnen an die Hand, und wenn ſie ihre Verſe laſen, ſo geſchah es nach der proſodiſchen Scanſion, nicht aber nach den ungereimten Accenten, die wir heut zu Tage uͤber die Griechiſchen Verſe ſetzen. Haͤtten ſie zum Exempel den erſten Vers Heſiodi, Μοῦσαι πιερίηϑεν, ἀοιδῆσι κλείουσαι, nach der Art unſerer heutigen Schulmeiſter ausgeſprochen; ſo haͤtten ſie ihrer natuͤrlichen Sprache Gewalt angethan, und folglich auch in Leſung eines Verſes kein Vergnuͤgen empfinden koͤnnen. Der Accent in dem andern Worte ſteht nehmlich auf einer Sylbe, die nach allen Regeln kurtz iſt, und ſollte vielmehr auf der folgenden η ſtehen. Jm- gleichen im letzten Worte ſteht das Strichlein uͤberm ει, wo es eben ſo wenig hingehoͤrt. Das ου iſt hier lang und der

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/334>, abgerufen am 24.11.2024.