Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite


Das erste Capitel.
Von Oden, oder Liedern.

WJr folgen der Ordnung der Natur. Oben
ist erwiesen worden, daß die Music zu Erfin-
dung der Poesie den ersten Anlaß gegeben.
Die ersten Dichter haben lauter Musicalische
Texte gemacht, und dieselben den Leuten vor-
gesungen. Die Lieder sind also die älteste Gattung der Ge-
dichte, und wir können mit gutem Grunde von denselben den
Anfang machen.

Weil ein Lied muß können gesungen werden, so gehört
eine Melodie dazu, und weil der Text und die Music sich zu
einander schicken sollen, so muß sich eins nach dem andern rich-
ten. Es versteht sich aber leicht, daß sich zuweilen die Poesie
nach der Weise; zuweilen aber die Weise nach der Melodie
bequemen wird, nachdem entweder jenes oder dieses am er-
sten fertig gewesen. Zwar die alten Poeten, weil sie zugleich
auch Sänger waren, und weder in einem noch dem andern
Stücke gar zu viel Regeln wusten, mögen wohl zuweilen aus
dem Stegreife gantz neue Lieder gesungen haben, davon vor-
her weder die Melodie noch der Text bekannt gewesen. Sie
nahmen es weder in der Länge der Zeilen, noch in dem Sylben-
maaße so genau; und konnten auch leicht soviel Thöne dazu
finden, daß es einem Gesange ähnlich wurde. Jch habe selbst
einen alten Meistersänger, der ein Musicus und Poet zugleich
seyn wollte, in grossen Gesellschafften zur Lust, auf jeden ins

beson-
X 4


Das erſte Capitel.
Von Oden, oder Liedern.

WJr folgen der Ordnung der Natur. Oben
iſt erwieſen worden, daß die Muſic zu Erfin-
dung der Poeſie den erſten Anlaß gegeben.
Die erſten Dichter haben lauter Muſicaliſche
Texte gemacht, und dieſelben den Leuten vor-
geſungen. Die Lieder ſind alſo die aͤlteſte Gattung der Ge-
dichte, und wir koͤnnen mit gutem Grunde von denſelben den
Anfang machen.

Weil ein Lied muß koͤnnen geſungen werden, ſo gehoͤrt
eine Melodie dazu, und weil der Text und die Muſic ſich zu
einander ſchicken ſollen, ſo muß ſich eins nach dem andern rich-
ten. Es verſteht ſich aber leicht, daß ſich zuweilen die Poeſie
nach der Weiſe; zuweilen aber die Weiſe nach der Melodie
bequemen wird, nachdem entweder jenes oder dieſes am er-
ſten fertig geweſen. Zwar die alten Poeten, weil ſie zugleich
auch Saͤnger waren, und weder in einem noch dem andern
Stuͤcke gar zu viel Regeln wuſten, moͤgen wohl zuweilen aus
dem Stegreife gantz neue Lieder geſungen haben, davon vor-
her weder die Melodie noch der Text bekannt geweſen. Sie
nahmen es weder in der Laͤnge der Zeilen, noch in dem Sylben-
maaße ſo genau; und konnten auch leicht ſoviel Thoͤne dazu
finden, daß es einem Geſange aͤhnlich wurde. Jch habe ſelbſt
einen alten Meiſterſaͤnger, der ein Muſicus und Poet zugleich
ſeyn wollte, in groſſen Geſellſchafften zur Luſt, auf jeden ins

beſon-
X 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0355" n="[327]"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Das er&#x017F;te Capitel.<lb/>
Von Oden, oder Liedern.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">W</hi>Jr folgen der Ordnung der Natur. Oben<lb/>
i&#x017F;t erwie&#x017F;en worden, daß die Mu&#x017F;ic zu Erfin-<lb/>
dung der Poe&#x017F;ie den er&#x017F;ten Anlaß gegeben.<lb/>
Die er&#x017F;ten Dichter haben lauter Mu&#x017F;icali&#x017F;che<lb/>
Texte gemacht, und die&#x017F;elben den Leuten vor-<lb/>
ge&#x017F;ungen. Die Lieder &#x017F;ind al&#x017F;o die a&#x0364;lte&#x017F;te Gattung der Ge-<lb/>
dichte, und wir ko&#x0364;nnen mit gutem Grunde von den&#x017F;elben den<lb/>
Anfang machen.</p><lb/>
          <p>Weil ein Lied muß ko&#x0364;nnen ge&#x017F;ungen werden, &#x017F;o geho&#x0364;rt<lb/>
eine Melodie dazu, und weil der Text und die Mu&#x017F;ic &#x017F;ich zu<lb/>
einander &#x017F;chicken &#x017F;ollen, &#x017F;o muß &#x017F;ich eins nach dem andern rich-<lb/>
ten. Es ver&#x017F;teht &#x017F;ich aber leicht, daß &#x017F;ich zuweilen die Poe&#x017F;ie<lb/>
nach der Wei&#x017F;e; zuweilen aber die Wei&#x017F;e nach der Melodie<lb/>
bequemen wird, nachdem entweder jenes oder die&#x017F;es am er-<lb/>
&#x017F;ten fertig gewe&#x017F;en. Zwar die alten Poeten, weil &#x017F;ie zugleich<lb/>
auch Sa&#x0364;nger waren, und weder in einem noch dem andern<lb/>
Stu&#x0364;cke gar zu viel Regeln wu&#x017F;ten, mo&#x0364;gen wohl zuweilen aus<lb/>
dem Stegreife gantz neue Lieder ge&#x017F;ungen haben, davon vor-<lb/>
her weder die Melodie noch der Text bekannt gewe&#x017F;en. Sie<lb/>
nahmen es weder in der La&#x0364;nge der Zeilen, noch in dem Sylben-<lb/>
maaße &#x017F;o genau; und konnten auch leicht &#x017F;oviel Tho&#x0364;ne dazu<lb/>
finden, daß es einem Ge&#x017F;ange a&#x0364;hnlich wurde. Jch habe &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
einen alten Mei&#x017F;ter&#x017F;a&#x0364;nger, der ein Mu&#x017F;icus und Poet zugleich<lb/>
&#x017F;eyn wollte, in gro&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;ell&#x017F;chafften zur Lu&#x017F;t, auf jeden ins<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">X 4</fw><fw place="bottom" type="catch">be&#x017F;on-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[327]/0355] Das erſte Capitel. Von Oden, oder Liedern. WJr folgen der Ordnung der Natur. Oben iſt erwieſen worden, daß die Muſic zu Erfin- dung der Poeſie den erſten Anlaß gegeben. Die erſten Dichter haben lauter Muſicaliſche Texte gemacht, und dieſelben den Leuten vor- geſungen. Die Lieder ſind alſo die aͤlteſte Gattung der Ge- dichte, und wir koͤnnen mit gutem Grunde von denſelben den Anfang machen. Weil ein Lied muß koͤnnen geſungen werden, ſo gehoͤrt eine Melodie dazu, und weil der Text und die Muſic ſich zu einander ſchicken ſollen, ſo muß ſich eins nach dem andern rich- ten. Es verſteht ſich aber leicht, daß ſich zuweilen die Poeſie nach der Weiſe; zuweilen aber die Weiſe nach der Melodie bequemen wird, nachdem entweder jenes oder dieſes am er- ſten fertig geweſen. Zwar die alten Poeten, weil ſie zugleich auch Saͤnger waren, und weder in einem noch dem andern Stuͤcke gar zu viel Regeln wuſten, moͤgen wohl zuweilen aus dem Stegreife gantz neue Lieder geſungen haben, davon vor- her weder die Melodie noch der Text bekannt geweſen. Sie nahmen es weder in der Laͤnge der Zeilen, noch in dem Sylben- maaße ſo genau; und konnten auch leicht ſoviel Thoͤne dazu finden, daß es einem Geſange aͤhnlich wurde. Jch habe ſelbſt einen alten Meiſterſaͤnger, der ein Muſicus und Poet zugleich ſeyn wollte, in groſſen Geſellſchafften zur Luſt, auf jeden ins beſon- X 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/355
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. [327]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/355>, abgerufen am 22.11.2024.