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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Des II Theils I Capitel
besondere ein gantz neues Lied singen hören. Er dichtete und
componirte also aus dem Stegreife; wie man theils aus den
Knittelverßen, theils aus der Melodie leicht hören konnte.
So kan man sich denn auch die ältesten Poeten einbilden. Jh-
re Texte waren so ungebunden als ihre Melodien; und wenn
wir in Kirchen den Lobgesang Mariä oder das Lied Simeons
singen, so können wir uns leicht vorstellen, wie solches mag
geklungen haben.

Doch von diesen ersten Liedern ist hier nicht mehr die Fra-
ge. Man hat sie allmählich regelmäßiger zu machen ange-
fangen, und theils die Texte, theils die Melodien gebessert.
Man ersand gewisse Weisen, die sehr schön ins Gehör fie-
len, und bemühte sich, dieselben nicht wieder zu vergessen.
Der Text ward darnach eingerichtet; und das war ein Lied
von einer Strophe. Wollte der Poet noch mehr Einfälle
und Gedancken ausdrücken, so hub er seine Melodie von for-
ne wieder an, und weil seine Verße sich auch darnach richten
musten, so entstund abermahl eine Strophe, die der ersten
ohngefähr ähnlich war. Und damit fuhr man so lange fort,
bis das Lied lang genung schien, oder der Dichter nichts mehr
zu sagen hatte.

Die ersten Melodien werden meines Erachtens nur
auf eine Zeile gelanget haben, und in der andern hat man sie
schon wiederholen müssen. Hernach hat man sie etwa auf
zwey Verße verlängert; und dabey werden sonderlich un-
sre Vorfahren, die eine gereimte Poesie liebten, geblieben
seyn; weil wir sonst keine Spuren von abgetheilten Stro-
phen bey ihnen finden. Zwey Zeilen machten also einen
Vers, darauf sie eine Melodie hatten; alsdenn huben sie
dieselbe von neuem wieder an. Die Griechen aber waren
bessere Sänger und Spielleute, und erfunden also bessere
Melodien, die sich auf vier, fünf, sechs, auch nach Gelegenheit
auf mehr Zeilen erstreckten: wie man aus ihren Poeten sieht.
Dadurch wurden auch die Poetischen Strophen länger, die
sie denn unter sich einander gleich machten; weil man am
Ende der einen, die Melodie wieder von Anfang anheben
muste. Das Wort srophe zeigt solches zur Gnüge, weil

es

Des II Theils I Capitel
beſondere ein gantz neues Lied ſingen hoͤren. Er dichtete und
componirte alſo aus dem Stegreife; wie man theils aus den
Knittelverßen, theils aus der Melodie leicht hoͤren konnte.
So kan man ſich denn auch die aͤlteſten Poeten einbilden. Jh-
re Texte waren ſo ungebunden als ihre Melodien; und wenn
wir in Kirchen den Lobgeſang Mariaͤ oder das Lied Simeons
ſingen, ſo koͤnnen wir uns leicht vorſtellen, wie ſolches mag
geklungen haben.

Doch von dieſen erſten Liedern iſt hier nicht mehr die Fra-
ge. Man hat ſie allmaͤhlich regelmaͤßiger zu machen ange-
fangen, und theils die Texte, theils die Melodien gebeſſert.
Man erſand gewiſſe Weiſen, die ſehr ſchoͤn ins Gehoͤr fie-
len, und bemuͤhte ſich, dieſelben nicht wieder zu vergeſſen.
Der Text ward darnach eingerichtet; und das war ein Lied
von einer Strophe. Wollte der Poet noch mehr Einfaͤlle
und Gedancken ausdruͤcken, ſo hub er ſeine Melodie von for-
ne wieder an, und weil ſeine Verße ſich auch darnach richten
muſten, ſo entſtund abermahl eine Strophe, die der erſten
ohngefaͤhr aͤhnlich war. Und damit fuhr man ſo lange fort,
bis das Lied lang genung ſchien, oder der Dichter nichts mehr
zu ſagen hatte.

Die erſten Melodien werden meines Erachtens nur
auf eine Zeile gelanget haben, und in der andern hat man ſie
ſchon wiederholen muͤſſen. Hernach hat man ſie etwa auf
zwey Verße verlaͤngert; und dabey werden ſonderlich un-
ſre Vorfahren, die eine gereimte Poeſie liebten, geblieben
ſeyn; weil wir ſonſt keine Spuren von abgetheilten Stro-
phen bey ihnen finden. Zwey Zeilen machten alſo einen
Vers, darauf ſie eine Melodie hatten; alsdenn huben ſie
dieſelbe von neuem wieder an. Die Griechen aber waren
beſſere Saͤnger und Spielleute, und erfunden alſo beſſere
Melodien, die ſich auf vier, fuͤnf, ſechs, auch nach Gelegenheit
auf mehr Zeilen erſtreckten: wie man aus ihren Poeten ſieht.
Dadurch wurden auch die Poetiſchen Strophen laͤnger, die
ſie denn unter ſich einander gleich machten; weil man am
Ende der einen, die Melodie wieder von Anfang anheben
muſte. Das Wort ςροφη zeigt ſolches zur Gnuͤge, weil

es
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[328/0356] Des II Theils I Capitel beſondere ein gantz neues Lied ſingen hoͤren. Er dichtete und componirte alſo aus dem Stegreife; wie man theils aus den Knittelverßen, theils aus der Melodie leicht hoͤren konnte. So kan man ſich denn auch die aͤlteſten Poeten einbilden. Jh- re Texte waren ſo ungebunden als ihre Melodien; und wenn wir in Kirchen den Lobgeſang Mariaͤ oder das Lied Simeons ſingen, ſo koͤnnen wir uns leicht vorſtellen, wie ſolches mag geklungen haben. Doch von dieſen erſten Liedern iſt hier nicht mehr die Fra- ge. Man hat ſie allmaͤhlich regelmaͤßiger zu machen ange- fangen, und theils die Texte, theils die Melodien gebeſſert. Man erſand gewiſſe Weiſen, die ſehr ſchoͤn ins Gehoͤr fie- len, und bemuͤhte ſich, dieſelben nicht wieder zu vergeſſen. Der Text ward darnach eingerichtet; und das war ein Lied von einer Strophe. Wollte der Poet noch mehr Einfaͤlle und Gedancken ausdruͤcken, ſo hub er ſeine Melodie von for- ne wieder an, und weil ſeine Verße ſich auch darnach richten muſten, ſo entſtund abermahl eine Strophe, die der erſten ohngefaͤhr aͤhnlich war. Und damit fuhr man ſo lange fort, bis das Lied lang genung ſchien, oder der Dichter nichts mehr zu ſagen hatte. Die erſten Melodien werden meines Erachtens nur auf eine Zeile gelanget haben, und in der andern hat man ſie ſchon wiederholen muͤſſen. Hernach hat man ſie etwa auf zwey Verße verlaͤngert; und dabey werden ſonderlich un- ſre Vorfahren, die eine gereimte Poeſie liebten, geblieben ſeyn; weil wir ſonſt keine Spuren von abgetheilten Stro- phen bey ihnen finden. Zwey Zeilen machten alſo einen Vers, darauf ſie eine Melodie hatten; alsdenn huben ſie dieſelbe von neuem wieder an. Die Griechen aber waren beſſere Saͤnger und Spielleute, und erfunden alſo beſſere Melodien, die ſich auf vier, fuͤnf, ſechs, auch nach Gelegenheit auf mehr Zeilen erſtreckten: wie man aus ihren Poeten ſieht. Dadurch wurden auch die Poetiſchen Strophen laͤnger, die ſie denn unter ſich einander gleich machten; weil man am Ende der einen, die Melodie wieder von Anfang anheben muſte. Das Wort ςροφη zeigt ſolches zur Gnuͤge, weil es

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/356>, abgerufen am 22.11.2024.