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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von Oden, oder Liedern.
lich und sinnreich zu machen. Nicht eben, als wenn alle-
mahl eine Epigrammatische Spitzfündigkeit darinn stecken
müste; dieses würde zu gekünstelt seyn, und sehr gezwungen
klingen: sondern daß nur die letzte Zeile nicht kalt und matt
abfalle, und also das vorhergehende Feuer gleichsam dämpfe.
Eben deswegen klingt es am Schlusse der Strophen sehr selten
gut, wenn die letzte Zeile vor sich einen eigenen Satz macht,
der mit der vorhergehenden, wenigen, oder gar keinen Zusam-
menhang hat. Es ist allezeit besser, wenn die letzten Zeilen
hübsch in einem hintereinander fortrollen, daß man im Lesen
nicht eher stille halten oder aufhören kan, als am Ende der
gantzen Strophe. Z. E. Wenn Canitz in der Ode auf seine
Doris singet:

Soll ich meine Doris missen?
Hat sie mir der Tod entrissen?
Oder bringt die Phantasey
Mir vielleicht ein Schrecken bey?
Lebt sie? Nein, sie ist verschwunden.
Meine Doris deckt ein Grab.
Reiß, Verhängnis, meinen Stunden
Ungesäumt den Faden ab.

So sieht man wohl, daß der Schluß deswegen so schön klappt,
weil die zwo letzten Zeilen in einem Stücke fortlaufen. Doch
muß man hiervon eine Ausnahme machen; denn zuweilen
erlaubet ein hefftiger Affect auch einen kurtzen und abgebro-
chenen Spruch am Ende. Als z. E.

Ein Jüngling, dessen hoher Geist
Aus Augen, Mund und Wesen lachte,
Der offt das Alter stutzig machte,
Das sonst der Jugend Lehrer heist:
Der unsrer Welt zu Nutz gebohren,
Der Seinen Zier und Frende war,
Betritt die schwarze Todten-Baar:
Gewiß, das heißt zu viel verlohren! Amthor.

Was sonst die andern Schlußpuncte in der Mitte einer
Strophe anlangt, so muß man darinn einen besondern Wohl-
klang beobachten. Jn den beyden angeführten Exempeln
achtzeiligter Strophen muste nothwendig an der vierten Zei-

le

Von Oden, oder Liedern.
lich und ſinnreich zu machen. Nicht eben, als wenn alle-
mahl eine Epigrammatiſche Spitzfuͤndigkeit darinn ſtecken
muͤſte; dieſes wuͤrde zu gekuͤnſtelt ſeyn, und ſehr gezwungen
klingen: ſondern daß nur die letzte Zeile nicht kalt und matt
abfalle, und alſo das vorhergehende Feuer gleichſam daͤmpfe.
Eben deswegen klingt es am Schluſſe der Strophen ſehr ſelten
gut, wenn die letzte Zeile vor ſich einen eigenen Satz macht,
der mit der vorhergehenden, wenigen, oder gar keinen Zuſam-
menhang hat. Es iſt allezeit beſſer, wenn die letzten Zeilen
huͤbſch in einem hintereinander fortrollen, daß man im Leſen
nicht eher ſtille halten oder aufhoͤren kan, als am Ende der
gantzen Strophe. Z. E. Wenn Canitz in der Ode auf ſeine
Doris ſinget:

Soll ich meine Doris miſſen?
Hat ſie mir der Tod entriſſen?
Oder bringt die Phantaſey
Mir vielleicht ein Schrecken bey?
Lebt ſie? Nein, ſie iſt verſchwunden.
Meine Doris deckt ein Grab.
Reiß, Verhaͤngnis, meinen Stunden
Ungeſaͤumt den Faden ab.

So ſieht man wohl, daß der Schluß deswegen ſo ſchoͤn klappt,
weil die zwo letzten Zeilen in einem Stuͤcke fortlaufen. Doch
muß man hiervon eine Ausnahme machen; denn zuweilen
erlaubet ein hefftiger Affect auch einen kurtzen und abgebro-
chenen Spruch am Ende. Als z. E.

Ein Juͤngling, deſſen hoher Geiſt
Aus Augen, Mund und Weſen lachte,
Der offt das Alter ſtutzig machte,
Das ſonſt der Jugend Lehrer heiſt:
Der unſrer Welt zu Nutz gebohren,
Der Seinen Zier und Frende war,
Betritt die ſchwarze Todten-Baar:
Gewiß, das heißt zu viel verlohren! Amthor.

Was ſonſt die andern Schlußpuncte in der Mitte einer
Strophe anlangt, ſo muß man darinn einen beſondern Wohl-
klang beobachten. Jn den beyden angefuͤhrten Exempeln
achtzeiligter Strophen muſte nothwendig an der vierten Zei-

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[331/0359] Von Oden, oder Liedern. lich und ſinnreich zu machen. Nicht eben, als wenn alle- mahl eine Epigrammatiſche Spitzfuͤndigkeit darinn ſtecken muͤſte; dieſes wuͤrde zu gekuͤnſtelt ſeyn, und ſehr gezwungen klingen: ſondern daß nur die letzte Zeile nicht kalt und matt abfalle, und alſo das vorhergehende Feuer gleichſam daͤmpfe. Eben deswegen klingt es am Schluſſe der Strophen ſehr ſelten gut, wenn die letzte Zeile vor ſich einen eigenen Satz macht, der mit der vorhergehenden, wenigen, oder gar keinen Zuſam- menhang hat. Es iſt allezeit beſſer, wenn die letzten Zeilen huͤbſch in einem hintereinander fortrollen, daß man im Leſen nicht eher ſtille halten oder aufhoͤren kan, als am Ende der gantzen Strophe. Z. E. Wenn Canitz in der Ode auf ſeine Doris ſinget: Soll ich meine Doris miſſen? Hat ſie mir der Tod entriſſen? Oder bringt die Phantaſey Mir vielleicht ein Schrecken bey? Lebt ſie? Nein, ſie iſt verſchwunden. Meine Doris deckt ein Grab. Reiß, Verhaͤngnis, meinen Stunden Ungeſaͤumt den Faden ab. So ſieht man wohl, daß der Schluß deswegen ſo ſchoͤn klappt, weil die zwo letzten Zeilen in einem Stuͤcke fortlaufen. Doch muß man hiervon eine Ausnahme machen; denn zuweilen erlaubet ein hefftiger Affect auch einen kurtzen und abgebro- chenen Spruch am Ende. Als z. E. Ein Juͤngling, deſſen hoher Geiſt Aus Augen, Mund und Weſen lachte, Der offt das Alter ſtutzig machte, Das ſonſt der Jugend Lehrer heiſt: Der unſrer Welt zu Nutz gebohren, Der Seinen Zier und Frende war, Betritt die ſchwarze Todten-Baar: Gewiß, das heißt zu viel verlohren! Amthor. Was ſonſt die andern Schlußpuncte in der Mitte einer Strophe anlangt, ſo muß man darinn einen beſondern Wohl- klang beobachten. Jn den beyden angefuͤhrten Exempeln achtzeiligter Strophen muſte nothwendig an der vierten Zei- le

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/359>, abgerufen am 22.11.2024.