le ein Punct stehen; und es würde sehr übel geklungen ha- ben, wenn man den Sinn bis in die fünfte Zeile gezogen hätte. Wäre aber die Verschränckung der Reime dergestalt gewe- sen, als in folgender Strophe von sechs Zeilen:
Auf! ihr klugen Pierinnen, Lasset uns ein Lied beginnen, Einem Helden, der euch liebt; Der bey seinen schönen Flüssen, Welche sich hierum ergiessen, Uns auch eine Stelle giebt. Opitz.
So hätte nach der dritten Zeile der Verstand vollkommen seyn müssen, und so auch in andern Arten allezeit anders.
Die Zeilen in den Oden dörfen nicht alle von einer Län- ge seyn. Man kan allerley Vermischungen von drey, vier, fünf ja sechsfüßigen Verßen in der ersten Strophe machen, und darf nur das Gehör zu Rathe ziehen, ob sie wohl klingen. daraus entstehen nun unzehliche Gattungen der Oden, die doch dem Sylbenmaße nach, nur entweder jambisch oder tro- chäisch sind. Z. E. Opitz hat folgende Art:
Jhr schwarzen Augen ihr, und du o schwartzes Haar Der frischen Flavien, die vor mein Herze war, Auf die ich pflag zu richten, Mehr als ein Weiser soll, Mein Schreiben, Thun und Dichten, Gehabt euch ewig wohl.
Doch ich müste etliche Schocke hersetzen, wenn ich nur die besten wehlen wollte. Jn Weidners Ubersetzungen von Horatii Oden kan man unzehlige Gattungen finden, und sich die besten davon wehlen. Ja auch im Hübnerschen Hand- buche kan man sich zur Noth eine Menge möglicher Verän- derungen von trochäischen und jambischen Strophen bekannt machen.
Die Materien, so in Oden vorkommen können, sind fast unzehlig, obgleich im Anfange die Lieder nur zum Ausdrucke der Affecten gebraucht worden. Dieser ersten Erfindung zufolge, würde man nur traurige, lustige und verliebte Lieder machen müssen. Aber nach der Zeit hat man sich daran nicht gebunden; sondern kein Bedencken getragen, alle mögliche
Ar-
Des II Theils I Capitel
le ein Punct ſtehen; und es wuͤrde ſehr uͤbel geklungen ha- ben, wenn man den Sinn bis in die fuͤnfte Zeile gezogen haͤtte. Waͤre aber die Verſchraͤnckung der Reime dergeſtalt gewe- ſen, als in folgender Strophe von ſechs Zeilen:
Auf! ihr klugen Pierinnen, Laſſet uns ein Lied beginnen, Einem Helden, der euch liebt; Der bey ſeinen ſchoͤnen Fluͤſſen, Welche ſich hierum ergieſſen, Uns auch eine Stelle giebt. Opitz.
So haͤtte nach der dritten Zeile der Verſtand vollkommen ſeyn muͤſſen, und ſo auch in andern Arten allezeit anders.
Die Zeilen in den Oden doͤrfen nicht alle von einer Laͤn- ge ſeyn. Man kan allerley Vermiſchungen von drey, vier, fuͤnf ja ſechsfuͤßigen Verßen in der erſten Strophe machen, und darf nur das Gehoͤr zu Rathe ziehen, ob ſie wohl klingen. daraus entſtehen nun unzehliche Gattungen der Oden, die doch dem Sylbenmaße nach, nur entweder jambiſch oder tro- chaͤiſch ſind. Z. E. Opitz hat folgende Art:
Jhr ſchwarzen Augen ihr, und du o ſchwartzes Haar Der friſchen Flavien, die vor mein Herze war, Auf die ich pflag zu richten, Mehr als ein Weiſer ſoll, Mein Schreiben, Thun und Dichten, Gehabt euch ewig wohl.
Doch ich muͤſte etliche Schocke herſetzen, wenn ich nur die beſten wehlen wollte. Jn Weidners Uberſetzungen von Horatii Oden kan man unzehlige Gattungen finden, und ſich die beſten davon wehlen. Ja auch im Huͤbnerſchen Hand- buche kan man ſich zur Noth eine Menge moͤglicher Veraͤn- derungen von trochaͤiſchen und jambiſchen Strophen bekannt machen.
Die Materien, ſo in Oden vorkommen koͤnnen, ſind faſt unzehlig, obgleich im Anfange die Lieder nur zum Ausdrucke der Affecten gebraucht worden. Dieſer erſten Erfindung zufolge, wuͤrde man nur traurige, luſtige und verliebte Lieder machen muͤſſen. Aber nach der Zeit hat man ſich daran nicht gebunden; ſondern kein Bedencken getragen, alle moͤgliche
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Des II Theils I Capitel
le ein Punct ſtehen; und es wuͤrde ſehr uͤbel geklungen ha-
ben, wenn man den Sinn bis in die fuͤnfte Zeile gezogen haͤtte.
Waͤre aber die Verſchraͤnckung der Reime dergeſtalt gewe-
ſen, als in folgender Strophe von ſechs Zeilen:
Auf! ihr klugen Pierinnen,
Laſſet uns ein Lied beginnen,
Einem Helden, der euch liebt;
Der bey ſeinen ſchoͤnen Fluͤſſen,
Welche ſich hierum ergieſſen,
Uns auch eine Stelle giebt. Opitz.
So haͤtte nach der dritten Zeile der Verſtand vollkommen
ſeyn muͤſſen, und ſo auch in andern Arten allezeit anders.
Die Zeilen in den Oden doͤrfen nicht alle von einer Laͤn-
ge ſeyn. Man kan allerley Vermiſchungen von drey, vier,
fuͤnf ja ſechsfuͤßigen Verßen in der erſten Strophe machen,
und darf nur das Gehoͤr zu Rathe ziehen, ob ſie wohl klingen.
daraus entſtehen nun unzehliche Gattungen der Oden, die
doch dem Sylbenmaße nach, nur entweder jambiſch oder tro-
chaͤiſch ſind. Z. E. Opitz hat folgende Art:
Jhr ſchwarzen Augen ihr, und du o ſchwartzes Haar
Der friſchen Flavien, die vor mein Herze war,
Auf die ich pflag zu richten,
Mehr als ein Weiſer ſoll,
Mein Schreiben, Thun und Dichten,
Gehabt euch ewig wohl.
Doch ich muͤſte etliche Schocke herſetzen, wenn ich nur
die beſten wehlen wollte. Jn Weidners Uberſetzungen von
Horatii Oden kan man unzehlige Gattungen finden, und ſich
die beſten davon wehlen. Ja auch im Huͤbnerſchen Hand-
buche kan man ſich zur Noth eine Menge moͤglicher Veraͤn-
derungen von trochaͤiſchen und jambiſchen Strophen bekannt
machen.
Die Materien, ſo in Oden vorkommen koͤnnen, ſind faſt
unzehlig, obgleich im Anfange die Lieder nur zum Ausdrucke
der Affecten gebraucht worden. Dieſer erſten Erfindung
zufolge, wuͤrde man nur traurige, luſtige und verliebte Lieder
machen muͤſſen. Aber nach der Zeit hat man ſich daran nicht
gebunden; ſondern kein Bedencken getragen, alle moͤgliche
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/360>, abgerufen am 22.11.2024.
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