Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Von Oden, oder Liedern. Ach was sind vor große Dichter Unsres Vaterlandes Lichter! Hört, wie unser Pindus schallt. Phöbus sitzt umringt mit Söhnen, Und kan kaum die Helfte krönen, Weil er seinen Lorberwald, Den wir so verwüstet schauen, Bloß zu Kräntzen kahl gehauen. Thöricht war die Zahl der Weisen, So uns die Geschichte priesen, Gegen unsrer Weisen Zahl. Groß an Klugheit, jung an Jahren, Viel gelernt und viel erfahren, Doch am Kinne glatt und kahl, Das sind itzo, da ich singe, Die gemeinsten Wunderdinge. Gantze Millionen Weiber Haben itzt so schöne Leiber, Als das schönste Venusbild. Nach Lucretiens Exempel Sind sie lauter Keuschheits-Tempel, Nur mit Scham und Zucht erfüllt. Amors Pfeil und Liebes-Wunden, Haben sie noch nie empfunden. Doch was mach ich? Clio schweige! Fleuch mit deiner Heuchler-Geige, Fleuch, verhaßte Lügnerin! Andre magst du schmeicheln lehren, Jch will bloß die Wahrheit ehren, Der ich längst ergeben bin. Komm Thalia! du Getreue Straf und schilt die Welt aufs neue. Lehre mich die Wahrheit schreiben, Die der Welt zu Trotze bleiben Und sie schamroth machen soll. Mache täglich Schand und Laster, Unverstand und Wahn verhaßter, Zeige stets den alten Groll, Den du längst der Schaar der Thoren Angedroht, ja zugeschworen. Köni Z
Von Oden, oder Liedern. Ach was ſind vor große Dichter Unſres Vaterlandes Lichter! Hoͤrt, wie unſer Pindus ſchallt. Phoͤbus ſitzt umringt mit Soͤhnen, Und kan kaum die Helfte kroͤnen, Weil er ſeinen Lorberwald, Den wir ſo verwuͤſtet ſchauen, Bloß zu Kraͤntzen kahl gehauen. Thoͤricht war die Zahl der Weiſen, So uns die Geſchichte prieſen, Gegen unſrer Weiſen Zahl. Groß an Klugheit, jung an Jahren, Viel gelernt und viel erfahren, Doch am Kinne glatt und kahl, Das ſind itzo, da ich ſinge, Die gemeinſten Wunderdinge. Gantze Millionen Weiber Haben itzt ſo ſchoͤne Leiber, Als das ſchoͤnſte Venusbild. Nach Lucretiens Exempel Sind ſie lauter Keuſchheits-Tempel, Nur mit Scham und Zucht erfuͤllt. Amors Pfeil und Liebes-Wunden, Haben ſie noch nie empfunden. Doch was mach ich? Clio ſchweige! Fleuch mit deiner Heuchler-Geige, Fleuch, verhaßte Luͤgnerin! Andre magſt du ſchmeicheln lehren, Jch will bloß die Wahrheit ehren, Der ich laͤngſt ergeben bin. Komm Thalia! du Getreue Straf und ſchilt die Welt aufs neue. Lehre mich die Wahrheit ſchreiben, Die der Welt zu Trotze bleiben Und ſie ſchamroth machen ſoll. Mache taͤglich Schand und Laſter, Unverſtand und Wahn verhaßter, Zeige ſtets den alten Groll, Den du laͤngſt der Schaar der Thoren Angedroht, ja zugeſchworen. Koͤni Z
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0381" n="353"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von Oden, oder Liedern.</hi> </fw><lb/> <lg n="74"> <l>Ach was ſind vor große Dichter</l><lb/> <l>Unſres Vaterlandes Lichter!</l><lb/> <l>Hoͤrt, wie unſer Pindus ſchallt.</l><lb/> <l>Phoͤbus ſitzt umringt mit Soͤhnen,</l><lb/> <l>Und kan kaum die Helfte kroͤnen,</l><lb/> <l>Weil er ſeinen Lorberwald,</l><lb/> <l>Den wir ſo verwuͤſtet ſchauen,</l><lb/> <l>Bloß zu Kraͤntzen kahl gehauen.</l> </lg><lb/> <lg n="75"> <l>Thoͤricht war die Zahl der Weiſen,</l><lb/> <l>So uns die Geſchichte prieſen,</l><lb/> <l>Gegen unſrer Weiſen Zahl.</l><lb/> <l>Groß an Klugheit, jung an Jahren,</l><lb/> <l>Viel gelernt und viel erfahren,</l><lb/> <l>Doch am Kinne glatt und kahl,</l><lb/> <l>Das ſind itzo, da ich ſinge,</l><lb/> <l>Die gemeinſten Wunderdinge.</l> </lg><lb/> <lg n="76"> <l>Gantze Millionen Weiber</l><lb/> <l>Haben itzt ſo ſchoͤne Leiber,</l><lb/> <l>Als das ſchoͤnſte Venusbild.</l><lb/> <l>Nach Lucretiens Exempel</l><lb/> <l>Sind ſie lauter Keuſchheits-Tempel,</l><lb/> <l>Nur mit Scham und Zucht erfuͤllt.</l><lb/> <l>Amors Pfeil und Liebes-Wunden,</l><lb/> <l>Haben ſie noch nie empfunden.</l> </lg><lb/> <lg n="77"> <l>Doch was mach ich? Clio ſchweige!</l><lb/> <l>Fleuch mit deiner Heuchler-Geige,</l><lb/> <l>Fleuch, verhaßte Luͤgnerin!</l><lb/> <l>Andre magſt du ſchmeicheln lehren,</l><lb/> <l>Jch will bloß die Wahrheit ehren,</l><lb/> <l>Der ich laͤngſt ergeben bin.</l><lb/> <l>Komm Thalia! du Getreue</l><lb/> <l>Straf und ſchilt die Welt aufs neue.</l> </lg><lb/> <lg n="78"> <l>Lehre mich die Wahrheit ſchreiben,</l><lb/> <l>Die der Welt zu Trotze bleiben</l><lb/> <l>Und ſie ſchamroth machen ſoll.</l><lb/> <l>Mache taͤglich Schand und Laſter,</l><lb/> <l>Unverſtand und Wahn verhaßter,</l><lb/> <l>Zeige ſtets den alten Groll,</l><lb/> <l>Den du laͤngſt der Schaar der Thoren</l><lb/> <l>Angedroht, ja zugeſchworen.</l> </lg><lb/> <fw place="bottom" type="sig">Z</fw> <fw place="bottom" type="catch">Koͤni</fw><lb/> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [353/0381]
Von Oden, oder Liedern.
Ach was ſind vor große Dichter
Unſres Vaterlandes Lichter!
Hoͤrt, wie unſer Pindus ſchallt.
Phoͤbus ſitzt umringt mit Soͤhnen,
Und kan kaum die Helfte kroͤnen,
Weil er ſeinen Lorberwald,
Den wir ſo verwuͤſtet ſchauen,
Bloß zu Kraͤntzen kahl gehauen.
Thoͤricht war die Zahl der Weiſen,
So uns die Geſchichte prieſen,
Gegen unſrer Weiſen Zahl.
Groß an Klugheit, jung an Jahren,
Viel gelernt und viel erfahren,
Doch am Kinne glatt und kahl,
Das ſind itzo, da ich ſinge,
Die gemeinſten Wunderdinge.
Gantze Millionen Weiber
Haben itzt ſo ſchoͤne Leiber,
Als das ſchoͤnſte Venusbild.
Nach Lucretiens Exempel
Sind ſie lauter Keuſchheits-Tempel,
Nur mit Scham und Zucht erfuͤllt.
Amors Pfeil und Liebes-Wunden,
Haben ſie noch nie empfunden.
Doch was mach ich? Clio ſchweige!
Fleuch mit deiner Heuchler-Geige,
Fleuch, verhaßte Luͤgnerin!
Andre magſt du ſchmeicheln lehren,
Jch will bloß die Wahrheit ehren,
Der ich laͤngſt ergeben bin.
Komm Thalia! du Getreue
Straf und ſchilt die Welt aufs neue.
Lehre mich die Wahrheit ſchreiben,
Die der Welt zu Trotze bleiben
Und ſie ſchamroth machen ſoll.
Mache taͤglich Schand und Laſter,
Unverſtand und Wahn verhaßter,
Zeige ſtets den alten Groll,
Den du laͤngſt der Schaar der Thoren
Angedroht, ja zugeſchworen.
Koͤni
Z
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |