diese Regeln haben die Herrn Musici den Poeten vorgeschrie- ben, und diese haben sich dieselbe, ich weiß nicht warum? vorschreiben lassen, ja sie wohl gar angebetet. Allein wie wäre es, wenn ein Poet seinem Componisten einmahl nach Anleitung der Natur und Vernunft sagte, wie er seine Can- taten setzen sollte; Es möchte nun dieses mit den Regeln und Exempeln ihrer so grossen, aber sehr unnatürlichen italieni- schen Meister, übereinkommen oder nicht?
Wenn man die Cantata als eine Art von Liedern oder Oden ansieht, davon ich im vorigen die Regeln gegeben habe: So versteht sichs von sich selbst, daß sie nicht aus kaltsinnigem schläfrigem und schlechtem Zeuge bestehen müssen. Sie wer- den einen gewissen Affect ausdrücken, oder voll erhabener und feuriger Gedancken, prächtiger oder zärtlicher Ausdrückun- gen seyn; kurtz, einen solchen Jnhalt haben, der dem Musico Gelegenheit genug zu guten Einfällen geben wird. Er wird sich freylich auch bemühen, das munterste, sinnreicheste und beweglichste in die Arien, das übrige aber ins Recitativ zu bringen. Er wird nach Beschaffenheit der Sachen auch mehr als eine Person darinn redend aufführen, damit der Wechsel vieler Stimmen desto mehr Mannigfaltigkeit in dem Gesange hervorbringe. Er wird freylich auch seine Re- citative nicht gantze Seiten lang machen, sondern bald wieder was muntres und scharfsinniges, mit einzumischen bemühet seyn, welches eine Arie abgeben kan. Allein er wird es auch von seinem Componisten mit Grunde fordern, daß er nicht durch unzehliche Wiederholungen einer Zeile, halbe Stunden lang zubringe; daß er einzelne Wörter nicht so zerre und aus- dehne daß der Sänger zehnmahl darüber Athem holen müsse, und endlich von den Zuhörern seiner unendlichen Triller we- gen nicht verstanden werden könne; Daß er eine gewisse Gleichheit in der Melodie einer Arie beybehalte, und nicht den Anfang gar zu künstlich, das übrige aber gar zu schlecht weg setze; daß er endlich die Recitative nicht so gar schläfrig herbeten lasse, als ob sie gleichsam keines musicalischen Zierra- thes, keiner Begleitung von Jnstrumenten werth wären. Alle diese Regeln sind in der Natur so wohl gegründet; daß
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Von Cantaten.
dieſe Regeln haben die Herrn Muſici den Poeten vorgeſchrie- ben, und dieſe haben ſich dieſelbe, ich weiß nicht warum? vorſchreiben laſſen, ja ſie wohl gar angebetet. Allein wie waͤre es, wenn ein Poet ſeinem Componiſten einmahl nach Anleitung der Natur und Vernunft ſagte, wie er ſeine Can- taten ſetzen ſollte; Es moͤchte nun dieſes mit den Regeln und Exempeln ihrer ſo groſſen, aber ſehr unnatuͤrlichen italieni- ſchen Meiſter, uͤbereinkommen oder nicht?
Wenn man die Cantata als eine Art von Liedern oder Oden anſieht, davon ich im vorigen die Regeln gegeben habe: So verſteht ſichs von ſich ſelbſt, daß ſie nicht aus kaltſinnigem ſchlaͤfrigem und ſchlechtem Zeuge beſtehen muͤſſen. Sie wer- den einen gewiſſen Affect ausdruͤcken, oder voll erhabener und feuriger Gedancken, praͤchtiger oder zaͤrtlicher Ausdruͤckun- gen ſeyn; kurtz, einen ſolchen Jnhalt haben, der dem Muſico Gelegenheit genug zu guten Einfaͤllen geben wird. Er wird ſich freylich auch bemuͤhen, das munterſte, ſinnreicheſte und beweglichſte in die Arien, das uͤbrige aber ins Recitativ zu bringen. Er wird nach Beſchaffenheit der Sachen auch mehr als eine Perſon darinn redend auffuͤhren, damit der Wechſel vieler Stimmen deſto mehr Mannigfaltigkeit in dem Geſange hervorbringe. Er wird freylich auch ſeine Re- citative nicht gantze Seiten lang machen, ſondern bald wieder was muntres und ſcharfſinniges, mit einzumiſchen bemuͤhet ſeyn, welches eine Arie abgeben kan. Allein er wird es auch von ſeinem Componiſten mit Grunde fordern, daß er nicht durch unzehliche Wiederholungen einer Zeile, halbe Stunden lang zubringe; daß er einzelne Woͤrter nicht ſo zerre und aus- dehne daß der Saͤnger zehnmahl daruͤber Athem holen muͤſſe, und endlich von den Zuhoͤrern ſeiner unendlichen Triller we- gen nicht verſtanden werden koͤnne; Daß er eine gewiſſe Gleichheit in der Melodie einer Arie beybehalte, und nicht den Anfang gar zu kuͤnſtlich, das uͤbrige aber gar zu ſchlecht weg ſetze; daß er endlich die Recitative nicht ſo gar ſchlaͤfrig herbeten laſſe, als ob ſie gleichſam keines muſicaliſchen Zierra- thes, keiner Begleitung von Jnſtrumenten werth waͤren. Alle dieſe Regeln ſind in der Natur ſo wohl gegruͤndet; daß
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Von Cantaten.
dieſe Regeln haben die Herrn Muſici den Poeten vorgeſchrie-
ben, und dieſe haben ſich dieſelbe, ich weiß nicht warum?
vorſchreiben laſſen, ja ſie wohl gar angebetet. Allein wie
waͤre es, wenn ein Poet ſeinem Componiſten einmahl nach
Anleitung der Natur und Vernunft ſagte, wie er ſeine Can-
taten ſetzen ſollte; Es moͤchte nun dieſes mit den Regeln und
Exempeln ihrer ſo groſſen, aber ſehr unnatuͤrlichen italieni-
ſchen Meiſter, uͤbereinkommen oder nicht?
Wenn man die Cantata als eine Art von Liedern oder
Oden anſieht, davon ich im vorigen die Regeln gegeben habe:
So verſteht ſichs von ſich ſelbſt, daß ſie nicht aus kaltſinnigem
ſchlaͤfrigem und ſchlechtem Zeuge beſtehen muͤſſen. Sie wer-
den einen gewiſſen Affect ausdruͤcken, oder voll erhabener und
feuriger Gedancken, praͤchtiger oder zaͤrtlicher Ausdruͤckun-
gen ſeyn; kurtz, einen ſolchen Jnhalt haben, der dem Muſico
Gelegenheit genug zu guten Einfaͤllen geben wird. Er wird
ſich freylich auch bemuͤhen, das munterſte, ſinnreicheſte und
beweglichſte in die Arien, das uͤbrige aber ins Recitativ zu
bringen. Er wird nach Beſchaffenheit der Sachen auch
mehr als eine Perſon darinn redend auffuͤhren, damit der
Wechſel vieler Stimmen deſto mehr Mannigfaltigkeit in
dem Geſange hervorbringe. Er wird freylich auch ſeine Re-
citative nicht gantze Seiten lang machen, ſondern bald wieder
was muntres und ſcharfſinniges, mit einzumiſchen bemuͤhet
ſeyn, welches eine Arie abgeben kan. Allein er wird es auch
von ſeinem Componiſten mit Grunde fordern, daß er nicht
durch unzehliche Wiederholungen einer Zeile, halbe Stunden
lang zubringe; daß er einzelne Woͤrter nicht ſo zerre und aus-
dehne daß der Saͤnger zehnmahl daruͤber Athem holen muͤſſe,
und endlich von den Zuhoͤrern ſeiner unendlichen Triller we-
gen nicht verſtanden werden koͤnne; Daß er eine gewiſſe
Gleichheit in der Melodie einer Arie beybehalte, und nicht
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weg ſetze; daß er endlich die Recitative nicht ſo gar ſchlaͤfrig
herbeten laſſe, als ob ſie gleichſam keines muſicaliſchen Zierra-
thes, keiner Begleitung von Jnſtrumenten werth waͤren.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/389>, abgerufen am 22.11.2024.
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