ich nicht wüste wie man ihrer hätte verfehlen können; wenn es den Jtalienern nicht mehrentheils schwer fiele, das natürlich schöne vor dem gekünstelten zu empfinden, und in ihren Sachen nachzuahmen.
Nichts ist mir lächerlicher, als wenn ich gewisse italie- nische Cantaten unter die Noten gesetzt sehe oder singen höre. Sind sie etwa verliebt, so wird der Sänger gewiß vor Liebe sterben wollen, und der Componist, wird das liebe morir dreyßig, vierzig Tacte durch, so zermartern und zerstümmeln, daß einem übel davon werden möchte. Ja, sagt man, das ist eben schön. Der Musicus drückt dadurch aus, wie sehr sich das arme verliebte Hertz quälen muß, ehe es stirbt. Gut! es zeigt aber auch an, daß es demselben noch kein Ernst mit dem sterben sey, wenn es sich mit soviel künstlichen musicalischen Schnörckeln bemüht, seine Worte auf die Folterbanck zu spannen. Wie es in diesem Affecte geht, so geht es mit allen andern. Ja bey so vielen andern Wörtern macht man eben solche unendliche Laufwercke, daran sich offt die beste Castra- ten-Kehle müde singet. Z. E. in einer gewissen Cantate vom Frühlinge, wo von dem Fliegen der Vögel durch die Lufft eine Aria vorkam, war das Wort Lufft so künstlich mit steigenden und fallenden Thönen gesetzt, und so vielfältig verändert, daß der Sänger zum wenigsten sechsmahl Athem holen muste, ehe er das einzige Wort abgesungen hatte. Das sollte aber den Flug der Vögel in der Lufft vorstellen, der nehmlich auch bald steiget bald fällt. Wie natürlich es aber heraus gekommen, lasse ich einen jeden selbst urtheilen. Mir kommt es immer vor, daß man vor aller Kunst in den italie- nischen Musicken, den Text gar verliert; weil das Ohr zwar ein ewiges ha, ha, ha, hertrillern höret, der Verstand aber gar nichts zu dencken bekommt.
Jch will mit dem allen eine vernünftige Wiederholung gewisser nachdrücklicher Wörter, so wenig als die Nachah- mung ihrer Natur durch die Thöne verwerfen, dafern solches nur angeht. Beydes ist nicht nur erlaubt, sondern auch schön; wenn es nur mäßig geschieht. Man wiederhole aber nur im Singen kein Wort, welches nicht der Poet auch im Texte
ohne
Des II Theils II Capitel
ich nicht wuͤſte wie man ihrer haͤtte verfehlen koͤnnen; wenn es den Jtalienern nicht mehrentheils ſchwer fiele, das natuͤrlich ſchoͤne vor dem gekuͤnſtelten zu empfinden, und in ihren Sachen nachzuahmen.
Nichts iſt mir laͤcherlicher, als wenn ich gewiſſe italie- niſche Cantaten unter die Noten geſetzt ſehe oder ſingen hoͤre. Sind ſie etwa verliebt, ſo wird der Saͤnger gewiß vor Liebe ſterben wollen, und der Componiſt, wird das liebe morir dreyßig, vierzig Tacte durch, ſo zermartern und zerſtuͤmmeln, daß einem uͤbel davon werden moͤchte. Ja, ſagt man, das iſt eben ſchoͤn. Der Muſicus druͤckt dadurch aus, wie ſehr ſich das arme verliebte Hertz quaͤlen muß, ehe es ſtirbt. Gut! es zeigt aber auch an, daß es demſelben noch kein Ernſt mit dem ſterben ſey, wenn es ſich mit ſoviel kuͤnſtlichen muſicaliſchen Schnoͤrckeln bemuͤht, ſeine Worte auf die Folterbanck zu ſpannen. Wie es in dieſem Affecte geht, ſo geht es mit allen andern. Ja bey ſo vielen andern Woͤrtern macht man eben ſolche unendliche Laufwercke, daran ſich offt die beſte Caſtra- ten-Kehle muͤde ſinget. Z. E. in einer gewiſſen Cantate vom Fruͤhlinge, wo von dem Fliegen der Voͤgel durch die Lufft eine Aria vorkam, war das Wort Lufft ſo kuͤnſtlich mit ſteigenden und fallenden Thoͤnen geſetzt, und ſo vielfaͤltig veraͤndert, daß der Saͤnger zum wenigſten ſechsmahl Athem holen muſte, ehe er das einzige Wort abgeſungen hatte. Das ſollte aber den Flug der Voͤgel in der Lufft vorſtellen, der nehmlich auch bald ſteiget bald faͤllt. Wie natuͤrlich es aber heraus gekommen, laſſe ich einen jeden ſelbſt urtheilen. Mir kommt es immer vor, daß man vor aller Kunſt in den italie- niſchen Muſicken, den Text gar verliert; weil das Ohr zwar ein ewiges ha, ha, ha, hertrillern hoͤret, der Verſtand aber gar nichts zu dencken bekommt.
Jch will mit dem allen eine vernuͤnftige Wiederholung gewiſſer nachdruͤcklicher Woͤrter, ſo wenig als die Nachah- mung ihrer Natur durch die Thoͤne verwerfen, dafern ſolches nur angeht. Beydes iſt nicht nur erlaubt, ſondern auch ſchoͤn; wenn es nur maͤßig geſchieht. Man wiederhole aber nur im Singen kein Wort, welches nicht der Poet auch im Texte
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Des II Theils II Capitel
ich nicht wuͤſte wie man ihrer haͤtte verfehlen koͤnnen; wenn es
den Jtalienern nicht mehrentheils ſchwer fiele, das natuͤrlich
ſchoͤne vor dem gekuͤnſtelten zu empfinden, und in ihren
Sachen nachzuahmen.
Nichts iſt mir laͤcherlicher, als wenn ich gewiſſe italie-
niſche Cantaten unter die Noten geſetzt ſehe oder ſingen hoͤre.
Sind ſie etwa verliebt, ſo wird der Saͤnger gewiß vor Liebe
ſterben wollen, und der Componiſt, wird das liebe morir
dreyßig, vierzig Tacte durch, ſo zermartern und zerſtuͤmmeln,
daß einem uͤbel davon werden moͤchte. Ja, ſagt man, das iſt
eben ſchoͤn. Der Muſicus druͤckt dadurch aus, wie ſehr ſich
das arme verliebte Hertz quaͤlen muß, ehe es ſtirbt. Gut!
es zeigt aber auch an, daß es demſelben noch kein Ernſt mit dem
ſterben ſey, wenn es ſich mit ſoviel kuͤnſtlichen muſicaliſchen
Schnoͤrckeln bemuͤht, ſeine Worte auf die Folterbanck zu
ſpannen. Wie es in dieſem Affecte geht, ſo geht es mit allen
andern. Ja bey ſo vielen andern Woͤrtern macht man eben
ſolche unendliche Laufwercke, daran ſich offt die beſte Caſtra-
ten-Kehle muͤde ſinget. Z. E. in einer gewiſſen Cantate vom
Fruͤhlinge, wo von dem Fliegen der Voͤgel durch die Lufft
eine Aria vorkam, war das Wort Lufft ſo kuͤnſtlich
mit ſteigenden und fallenden Thoͤnen geſetzt, und ſo vielfaͤltig
veraͤndert, daß der Saͤnger zum wenigſten ſechsmahl Athem
holen muſte, ehe er das einzige Wort abgeſungen hatte. Das
ſollte aber den Flug der Voͤgel in der Lufft vorſtellen, der
nehmlich auch bald ſteiget bald faͤllt. Wie natuͤrlich es aber
heraus gekommen, laſſe ich einen jeden ſelbſt urtheilen. Mir
kommt es immer vor, daß man vor aller Kunſt in den italie-
niſchen Muſicken, den Text gar verliert; weil das Ohr zwar
ein ewiges ha, ha, ha, hertrillern hoͤret, der Verſtand aber
gar nichts zu dencken bekommt.
Jch will mit dem allen eine vernuͤnftige Wiederholung
gewiſſer nachdruͤcklicher Woͤrter, ſo wenig als die Nachah-
mung ihrer Natur durch die Thoͤne verwerfen, dafern ſolches
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/390>, abgerufen am 22.11.2024.
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