Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Von Cantaten. ohne Ubelstand hätte wiederholen können. Das Singen istdoch nur ein angenehmes Lesen oder Aussprechen eines Ver- ßes, welches der Natur und dem Jnhalte desselben gemäß ist. Nun aber würde wohl kein Mensch, der mir einen Vers vor- läse, gesetzt daß der gröste Affect darinn steckte, denselben mehr als zwey, höchstens dreymahl wiederholen. Mehr- mahls muß er also auch nicht hinter einander gesungen wer- den, wenn es mich rühren, und also natürlich herauskommen soll. Ein guter Leser eines Gedichtes wird freylich das Wei- nen kläglich, das Lachen lustig, u. s. f. ein jedes Wort nach seiner Bedeutung mit einer guten Stimme auszusprechen wissen: Sich aber auch dabey vor allem lächerlichen Zwange in acht nehmen: So muß es ein Musicus auch machen, und sich vor allen Ausschweifungen hüten, die seinen Gesang dem natürlichen Ausdrucke der Gedancken, der unter vernünfti- gen Leuten gewöhnlich ist, unähnlich machen könnten. Eine Cantate muß sich ordentlicher Weise mit einer Wenn man an statt des Recitativs entweder biblische welches
Von Cantaten. ohne Ubelſtand haͤtte wiederholen koͤnnen. Das Singen iſtdoch nur ein angenehmes Leſen oder Ausſprechen eines Ver- ßes, welches der Natur und dem Jnhalte deſſelben gemaͤß iſt. Nun aber wuͤrde wohl kein Menſch, der mir einen Vers vor- laͤſe, geſetzt daß der groͤſte Affect darinn ſteckte, denſelben mehr als zwey, hoͤchſtens dreymahl wiederholen. Mehr- mahls muß er alſo auch nicht hinter einander geſungen wer- den, wenn es mich ruͤhren, und alſo natuͤrlich herauskommen ſoll. Ein guter Leſer eines Gedichtes wird freylich das Wei- nen klaͤglich, das Lachen luſtig, u. ſ. f. ein jedes Wort nach ſeiner Bedeutung mit einer guten Stimme auszuſprechen wiſſen: Sich aber auch dabey vor allem laͤcherlichen Zwange in acht nehmen: So muß es ein Muſicus auch machen, und ſich vor allen Ausſchweifungen huͤten, die ſeinen Geſang dem natuͤrlichen Ausdrucke der Gedancken, der unter vernuͤnfti- gen Leuten gewoͤhnlich iſt, unaͤhnlich machen koͤnnten. Eine Cantate muß ſich ordentlicher Weiſe mit einer Wenn man an ſtatt des Recitativs entweder bibliſche welches
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Von Cantaten.
ohne Ubelſtand haͤtte wiederholen koͤnnen. Das Singen iſt
doch nur ein angenehmes Leſen oder Ausſprechen eines Ver-
ßes, welches der Natur und dem Jnhalte deſſelben gemaͤß iſt.
Nun aber wuͤrde wohl kein Menſch, der mir einen Vers vor-
laͤſe, geſetzt daß der groͤſte Affect darinn ſteckte, denſelben
mehr als zwey, hoͤchſtens dreymahl wiederholen. Mehr-
mahls muß er alſo auch nicht hinter einander geſungen wer-
den, wenn es mich ruͤhren, und alſo natuͤrlich herauskommen
ſoll. Ein guter Leſer eines Gedichtes wird freylich das Wei-
nen klaͤglich, das Lachen luſtig, u. ſ. f. ein jedes Wort nach
ſeiner Bedeutung mit einer guten Stimme auszuſprechen
wiſſen: Sich aber auch dabey vor allem laͤcherlichen Zwange
in acht nehmen: So muß es ein Muſicus auch machen, und
ſich vor allen Ausſchweifungen huͤten, die ſeinen Geſang dem
natuͤrlichen Ausdrucke der Gedancken, der unter vernuͤnfti-
gen Leuten gewoͤhnlich iſt, unaͤhnlich machen koͤnnten.
Eine Cantate muß ſich ordentlicher Weiſe mit einer
Arie anheben und ſchlieſſen; damit ſie theils im Anfange mit
einer guten Art ins Gehoͤr falle, theils auch zuletzt noch einen
guten Eindruck mache. Die kuͤrzeſten darunter haben nur
ein einzig Recitativ in der Mitte; und beſtehen alſo nur aus
drey Theilen. Gemeiniglich aber hat eine Cantate drey Arien,
und zwey Recitative, und die laͤngſten ſollen nicht mehr als
vier oder fuͤnf Arien haben. Dieſe koͤnnen jambiſch, trochaͤiſch
und dactyliſch, ja auch vermiſcht ſeyn, nachdem es der Poet
vor gut befindet: daß Recitativ aber anders als jambiſch zu
machen, iſt nicht gewoͤhnlich. Die Zeilen deſſelben an Laͤnge
ſehr ungleich, d. i. etliche von zwey, etliche von zwoͤlf Sylben
zu machen, iſt nicht angenehm. Die Reime gar zu weit von
einander zu werfen, heiſt eben ſoviel als gar keine zu machen.
Weibliche mit weiblichen und maͤnnliche mit maͤnnlichen zu
vermiſchen klingt auch nicht gut; ob es gleich viele thun. Die
Laͤnge eines Recitativs kan man zwar nicht beſtimmen: aber
je kuͤrtzer es faͤllt, je beſſer iſt es.
Wenn man an ſtatt des Recitativs entweder bibliſche
Spruͤche, auch wohl Verße aus geiſtlichen Liedern zwiſchen
die Arien ſetzet, ſo heißt man ein ſolch Stuͤck ein Oratorium,
welches
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