seyn mögen. Haben sie so schön und zierlich nicht ausgesehen als des Theocriti seine, so ist es kein Wunder. Die Natur allein war ihre Lehrmeisterin gewesen, und die Kunst mochte noch keinen Theil daran gehabt haben. Theocritus hat beydes zu vereinigen gesucht, und also seine Vorgänger weit über- troffen.
Will man nun wissen worinn das rechte Wesen eines guten Schäfer-Gedichtes besteht: So kan ich kürtzlich sagen; in der Nachahmung des unschuldigen ruhigen, und ungekün- stelten Schäferlebens, welches vorzeiten in der Welt geführet worden. Poetisch würde ich sagen, es sey eine Abschilderung des güldenen Welt-Alters; auf Christliche Art zu reden, eine Vorstellung des Standes der Unschuld, oder doch we- nigstens der Patriarchalischen Zeiten vor und nach der Sünd- fluth. Aus dieser Beschreibung kan ein jeder leicht wahr- nehmen, was vor ein herrliches Feld zu schönen Beschrei- bungen eines tugendhafften und glücklichen Lebens sich hier einem Poeten zeiget. Denn die Wahrheit zu sagen, der heutige Schäferstand ist derjenige nicht, den man in Schä- fer-Gedichten abschildern muß. Er hat viel zu wenig An- nehmlichkeiten, als daß er uns recht gefallen könnte. Unsre Landleute sind mehrentheils armselige, gedrückte und geplag- te Leute. Sie sind selten die Besitzer ihrer Heerden, und wenn sie es gleich sind, werden ihnen doch so viel Steuren und Abgaben auferlegt, daß sie bey aller ihrer sauren Arbeit kaum ihr Brodt haben. Zudem herrschen unter ihnen schon so viele Laster, daß man sie nicht mehr als Muster der Tugend auf- führen kan. Es müssen gantz andre Schäfer seyn, die ein Poet abschildern, und deren Lebensart er in seinen Gedichten nachahmen soll. Laßt uns dieselben etwas näher betrachten.
Man stelle sich die Welt in ihrer ersten Unschuld vor. Ein freyes Volck, welches von keinen Königen und Fürsten weiß, wohnet in einem fetten Lande, welches an allem einen Uberfluß hat, und nicht nur Gras, Kräuter und Bäume, sondern auch die schönsten Früchte von sich selbst hervorbrin- get. Von schwerer Arbeit weiß man daselbst eben so wenig, als von Drangsalen und Kriegen. Ein jeder Hausvater ist
sein
Des II Theils III Capitel
ſeyn moͤgen. Haben ſie ſo ſchoͤn und zierlich nicht ausgeſehen als des Theocriti ſeine, ſo iſt es kein Wunder. Die Natur allein war ihre Lehrmeiſterin geweſen, und die Kunſt mochte noch keinen Theil daran gehabt haben. Theocritus hat beydes zu vereinigen geſucht, und alſo ſeine Vorgaͤnger weit uͤber- troffen.
Will man nun wiſſen worinn das rechte Weſen eines guten Schaͤfer-Gedichtes beſteht: So kan ich kuͤrtzlich ſagen; in der Nachahmung des unſchuldigen ruhigen, und ungekuͤn- ſtelten Schaͤferlebens, welches vorzeiten in der Welt gefuͤhret worden. Poetiſch wuͤrde ich ſagen, es ſey eine Abſchilderung des guͤldenen Welt-Alters; auf Chriſtliche Art zu reden, eine Vorſtellung des Standes der Unſchuld, oder doch we- nigſtens der Patriarchaliſchen Zeiten vor und nach der Suͤnd- fluth. Aus dieſer Beſchreibung kan ein jeder leicht wahr- nehmen, was vor ein herrliches Feld zu ſchoͤnen Beſchrei- bungen eines tugendhafften und gluͤcklichen Lebens ſich hier einem Poeten zeiget. Denn die Wahrheit zu ſagen, der heutige Schaͤferſtand iſt derjenige nicht, den man in Schaͤ- fer-Gedichten abſchildern muß. Er hat viel zu wenig An- nehmlichkeiten, als daß er uns recht gefallen koͤnnte. Unſre Landleute ſind mehrentheils armſelige, gedruͤckte und geplag- te Leute. Sie ſind ſelten die Beſitzer ihrer Heerden, und wenn ſie es gleich ſind, werden ihnen doch ſo viel Steuren und Abgaben auferlegt, daß ſie bey aller ihrer ſauren Arbeit kaum ihr Brodt haben. Zudem herrſchen unter ihnen ſchon ſo viele Laſter, daß man ſie nicht mehr als Muſter der Tugend auf- fuͤhren kan. Es muͤſſen gantz andre Schaͤfer ſeyn, die ein Poet abſchildern, und deren Lebensart er in ſeinen Gedichten nachahmen ſoll. Laßt uns dieſelben etwas naͤher betrachten.
Man ſtelle ſich die Welt in ihrer erſten Unſchuld vor. Ein freyes Volck, welches von keinen Koͤnigen und Fuͤrſten weiß, wohnet in einem fetten Lande, welches an allem einen Uberfluß hat, und nicht nur Gras, Kraͤuter und Baͤume, ſondern auch die ſchoͤnſten Fruͤchte von ſich ſelbſt hervorbrin- get. Von ſchwerer Arbeit weiß man daſelbſt eben ſo wenig, als von Drangſalen und Kriegen. Ein jeder Hausvater iſt
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Des II Theils III Capitel
ſeyn moͤgen. Haben ſie ſo ſchoͤn und zierlich nicht ausgeſehen
als des Theocriti ſeine, ſo iſt es kein Wunder. Die Natur
allein war ihre Lehrmeiſterin geweſen, und die Kunſt mochte
noch keinen Theil daran gehabt haben. Theocritus hat beydes
zu vereinigen geſucht, und alſo ſeine Vorgaͤnger weit uͤber-
troffen.
Will man nun wiſſen worinn das rechte Weſen eines
guten Schaͤfer-Gedichtes beſteht: So kan ich kuͤrtzlich ſagen;
in der Nachahmung des unſchuldigen ruhigen, und ungekuͤn-
ſtelten Schaͤferlebens, welches vorzeiten in der Welt gefuͤhret
worden. Poetiſch wuͤrde ich ſagen, es ſey eine Abſchilderung
des guͤldenen Welt-Alters; auf Chriſtliche Art zu reden,
eine Vorſtellung des Standes der Unſchuld, oder doch we-
nigſtens der Patriarchaliſchen Zeiten vor und nach der Suͤnd-
fluth. Aus dieſer Beſchreibung kan ein jeder leicht wahr-
nehmen, was vor ein herrliches Feld zu ſchoͤnen Beſchrei-
bungen eines tugendhafften und gluͤcklichen Lebens ſich hier
einem Poeten zeiget. Denn die Wahrheit zu ſagen, der
heutige Schaͤferſtand iſt derjenige nicht, den man in Schaͤ-
fer-Gedichten abſchildern muß. Er hat viel zu wenig An-
nehmlichkeiten, als daß er uns recht gefallen koͤnnte. Unſre
Landleute ſind mehrentheils armſelige, gedruͤckte und geplag-
te Leute. Sie ſind ſelten die Beſitzer ihrer Heerden, und
wenn ſie es gleich ſind, werden ihnen doch ſo viel Steuren und
Abgaben auferlegt, daß ſie bey aller ihrer ſauren Arbeit kaum
ihr Brodt haben. Zudem herrſchen unter ihnen ſchon ſo viele
Laſter, daß man ſie nicht mehr als Muſter der Tugend auf-
fuͤhren kan. Es muͤſſen gantz andre Schaͤfer ſeyn, die ein
Poet abſchildern, und deren Lebensart er in ſeinen Gedichten
nachahmen ſoll. Laßt uns dieſelben etwas naͤher betrachten.
Man ſtelle ſich die Welt in ihrer erſten Unſchuld vor.
Ein freyes Volck, welches von keinen Koͤnigen und Fuͤrſten
weiß, wohnet in einem fetten Lande, welches an allem einen
Uberfluß hat, und nicht nur Gras, Kraͤuter und Baͤume,
ſondern auch die ſchoͤnſten Fruͤchte von ſich ſelbſt hervorbrin-
get. Von ſchwerer Arbeit weiß man daſelbſt eben ſo wenig,
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/410>, abgerufen am 24.11.2024.
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